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Der letzte Walzer
Am Theater in Eisenach wird die Oper abgeschafft. Einen Chor gibt es schon nicht mehr, und das Orchester ist viel zu klein. Aber zum Untergang soll der »Rosenkavalier« erklingen
Von Barbara Lehmann
27. September 2007, 13:19 Uhr / Editiert am 27. September 2007, 13:22 Uhr Quelle: DIE ZEIT, 20.09.2007 Nr. 39
Die silberne Rose wäre der Dolch für den ganz leisen Abgang. Noch ist die Marschallin unentschlossen. Anmutig kauert sie auf dem Boden und führt den Stängel mit den Dornenmessern über die schmalen Arme… Der Tag hat nicht gut begonnen: Octavian, der junge Geliebte, hat sie nach der Liebesnacht verlassen – sie ahnt, das sie ihn verlieren wird. Zum morgendlichen Lever sind, statt der üblichen Bittstellerschlangen, nur ein paar klägliche Gäste erschienen. »Alles löst sich auf, was wir ergreifen«, singt die Marschallin, »ich hab die Uhren angehalten.«
Fin de siècle, Untergang einer Epoche als Seelenstudie. Hinter den Fenstern der Probebühne wölben sich im Abendlicht Eisenachs frisch renovierte Dächer, und drinnen wird der Rosenkavalier geprobt. Als großorchestraler, verschwenderischer Walzertraum kann er hier nicht erklingen. Seit der Einsparung des Chores ist man in Eisenach zur Knappheit, Verdichtung und psychologischen Tiefenschärfe gezwungen. Die Richard-Strauss-Oper, mit der das Eisenacher Musiktheater seine letzte Spielzeit eröffnet, wird zum Kammerstück.
»Bloß kein trauriger Abschied«, sagen Intendant Michael Schlicht und sein Dramaturg Stefan Bausch am nächsten Morgen, »bloß kein Mitleid.« Auf dem Spielplanplakat über ihren Köpfen schwebt eine Rose wie eine Bombe, darunter tanzt der Schriftzug »Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein«. Die Sonne hext Schattenflechten auf Manuskripte, Bücher und Kippen, die von nächtlichen probenkritischen Diskussionen künden. Der Rosenkavalier, (Premiere ist am 6. Oktober), diese für Eisenacher Verhältnisse gewaltige Oper, ist das trotzige »Jetzt erst recht« der künstlerischen Leitung angesichts der bevorstehenden Schließung ihres Musiktheaters. Die am Ende der Spielzeit von 42½ auf 24 Stellen amputierte Landeskapelle Eisenach wird dafür sogar in einem letzten Aufbäumen auf 55 Musiker aufgestockt werden.
Die Auflösung des Dreispartenhauses vollzog sich in kleinen Schritten. Schon seit 1993 kam das Schauspiel für das Eisenacher Theater aus anderen Häusern, war das Orchester verkleinert worden. Seit drei Jahren, fast zeitgleich mit dem Amtseintritt Schlichts, muss die Musiktheatersparte ohne Chor auskommen. Im Juli 2006 verkündete der thüringische Kultusminister Jens Goebel, das Land werde ab 2009 die Zuschüsse für das Eisenacher und weitere Theater um zwei Drittel reduzieren. Während in anderen Städten die Politiker Seite an Seite mit den Künstlern erfolgreich für den Erhalt ihrer Theater kämpften, verhandelten Eisenachs Politiker ohne Hinzuziehung der künstlerischen Leitung hinter verschlossenen Türen. Ende des Jahres 2006 sickerte bereits durch, was durch den Beschluss des Stadtrats vom März 2007 Gewissheit wurde: Mit der Überführung des Landestheaters Eisenach in die Kulturstiftung Meiningen zum Ende der Spielzeit 2007/08 wird es kein eigenständiges Musiktheater mehr geben. 80 von 172 Mitarbeitern werden entlassen.
Auch davon wird der Rosenkavalier erzählen – zwangsläufig. Im zweiten Akt, der im Hause des neureichen Herrn Faninal spielt, soll in der Eisenacher Inszenierung der große Eventtrubel ausbrechen, und die Zuschauer sollen als unfreiwillige Gäste mit einbezogen werden. Im dritten Akt wird man dann auf eine leere Bühne blicken. Arbeitslicht und Techniker werden die Bühnenvorgänge unterbrechen und die Darsteller, wie in den Stücken Pirandellos, am bitteren Ende aus ihren Rollen in die Wirklichkeit zwingen. Sie werden im Finsteren stehen – entlassen. Oder sie werden, falls der Kündigungsschutz bei mehr als 15-jähriger Beschäftigungszeit greift, auf Inspizientenstellen, Aufgaben im Künstlerischen Betriebsbüro oder Souffleuseposten abgeschoben. Wegrationalisiert von den Stadtvätern, die, wie der Intendant und sein Dramaturg meinen, ihr Theater nicht haben wollen. »Wir füllen die Bühne«, sagen Michael Schlicht und Stefan Bausch, »wir sind Anbieter, nichts weiter. Doch wenn eine Stadt, eine Region oder ein Land es nicht mehr für nötig erachtet, sich krummzulegen, weil sie ihr Theater für wertvoll achten, dann muss man gehen.« Ihre blauen Briefe haben beide schon vor der Sommerpause erhalten.
Übrig bleibt ein Torso: das Tanztheater unter Tomasz Kajdanski, das Junge Theater mit vier Darstellern und der zum »Kammerensemble« geschrumpfte Rest der Eisenacher Landeskapelle. Diese Rumpfmannschaft wird – mit der Hälfte der Belegschaft aus Verwaltung, Technik und Werkstätten – mitsamt der Theaterimmobilie als »Zustiftung« der Kulturstiftung Meiningen und der künstlerischen Leitung des Meininger Intendanten Ansgar Haag übereignet. Und somit, nach den Verlautbarungen der Abwickler, abgesichert und krisenfest gemacht für alle Zeiten. »Das Theater wird zur Außenspielstätte von Meiningen werden«, halten der Intendant und sein Dramaturg dagegen, »eine Art Luxusbespieltheater.« Von den Entlassungswellen, die das Theater seit diesem Sommer überrollen, kündet am Eingang des schlichten Ziegelsteingebäudes, das die Intendanz und Probebühnen beherbergt, nur noch ein Schriftstück der Bundesanstalt für Arbeit auf einer Tafel: »Bei Kündigung: Sofort zum Arbeitsamt«. Daneben faltet sich ein roter Regenschirm auf in Erwartung neuer Stürme.
Die Ruhe nach dem Sturm ist halb erzwungen. Die Trauerbeflaggung, erzählen der Intendant und sein Dramaturg, wie auch das düstere Protestplakat gegen den Theatertod mussten auf Geheiß des Eisenacher Oberbürgermeisters eingerollt werden. Mahnwachen und stehende Ovationen an das bedrohte Ensemble sind bereits Geschichte. Die zahlreichen Appelle und Protestbriefe vergilben in Aktenordnern: Die Berliner Philharmoniker haben geschrieben und der Regisseur Peter Konwitschny, städtische Firmen wie Bosch, BMW und Opel. Im Rückblick schlagen die Aktionen gegen die Schließung auch als zusätzliche Belastungen zu einer 50-Stunden-Woche zu Buche: etwa die Goldene Keule für Kultusminister Jens Goebel, als er auf der Wartburg in einer Laienvorstellung agierte, oder Sketche und Musik auf dem Marktplatz, die Chronik der Ereignisse des Tages, aufgepeppt vor den Abendvorstellungen zur lebenden Zeitung. Agitprop also, Aufwiegelung der Massen. Vielleicht war es ja die beste Zeit des Theaters. Genützt hat es gar nichts. Keiner der Geldgeber – weder die Stadt noch das Land oder der Wartburgkreis – waren jemals an ihrer Seite. Und jetzt wollen sie sich nur noch auf die Kunst konzentrieren. Vier Opernpremieren sind vorgesehen, neben dem Rosenkavalier zum Spielzeitauftakt Der Mann aus La Mancha, Die Fledermaus, Margarethe. Für eine fünfte Premiere würde zwar der Wille reichen, doch weder die Zeit noch die Mittel. Besser also, mit gebündelten Kräften und hoch erhobenen Köpfen die letzte Saison zu Ende zu bringen.
Noch aber ist Sommerpause und das Theater vermietet. Elisabeth – Die Legende einer Heiligen weht als Ankündigung über der mit Pilastern, Säulen und Türmen wehrhaft geschmückten Fassade des Hauptgebäudes. Auf dem Plakat reckt sich ein Händepaar in Fesseln fromm gen Abendhimmel, um diesem ein »packendes Musical« abzutrotzen. Die Produktion wird verantwortet von einem theaterfremden »Team Eisenach 2007«. Tag für Tag entströmen den Bussen am Theaterplatz Besucher in schwarzen Anzügen und großblumigen Abendroben. Sie kommen aus dem Eisenacher Umland und dem nahen Hessen, manche sind sogar aus dem Schwarzwald angereist. Die Feierlichkeiten zum 800. Geburtstag der heiligen Elisabeth, die von der Wartburg herabstieg zu den Armen, ließ sich die Stadt Eisenach mehrere Ausstellungen kosten, sodass die Reiseveranstalter den Event inklusive Übernachtung anbieten konnten. Weichgespülte christliche Botschaften erklingen zu Playbackmelodien, die nach Jesus Christ Superstar- Muster gesampelt wurden: »Lange genug hat der Mammon regiert, doch jetzt ist Schluss damit. Das ist der erste Schritt in eine neue Zeit, das ist der erste Schritt für Hoffnung und Gerechtigkeit.« Nebel wallen, Lichter kreisen, Wände fahren, bis sich die Schöne, ausgezehrt von ihrem wohltätigen Wirken, auf ein kratziges Laken zum Sterben bettet. »Religion light«, kommentiert ein Priester, der mit 15 Gemeindegliedern aus Mariabronn anreiste.
»Das Ergebnis, das wir erreicht haben, kann sich sehen lassen«, sagt Oberbürgermeister Matthias Doht. Die hochlehnigen Stühle im Empfangsraum des Rathauses kippen beim Hinsetzen und Aufstehen, worauf der Oberbürgermeister fürsorglich hinweist. »Unsere Lösung«, sagt der Bürgermeister, »reduziert das Angebot keinesfalls so, wie es der gekürzte Zuschuss eigentlich geboten hätte.« Drei Tage nach seinem Amtsantritt kam die Hiobsbotschaft der geplanten Mittelkürzung. 3,2 zusätzliche Millionen, sagt Doht, waren von der Stadt Eisenach nicht aufzubringen. Auch so fordere die Kultur bereits 14 Prozent der Verwaltungsausgaben, und die Stadt sei mit Musikschulen, Museen, Volkshochschulen und 30 künstlerischen Vereinen überdurchschnittlich belastet. Durch den Eintritt in die Kulturstiftung Meiningen, Austausch und Koproduktionen, betont der Bürgermeister, bleibe dem Theater ein eigenes Profil erhalten. 10 Premieren, 179 Vorstellungen, 80 aus Meiningen und 99 aus Eisenach, rattert er seine Zahlen runter, würden die Zukunft als Dreispartenhaus sichern.
Eisenach boomt. Aus dem hässlichen Entlein am Zonenrandeck zu Hessen ist nach der Wende mit neu herausgeputzter Wartburg, Lutherhaus, Bachhaus der Schwan der thüringischen Landschaft geworden. Allein zur Elisabeth-Ausstellung auf der Wartburg strömen jeden Tag 2000 Touristen, ungeachtet mancher Gehhilfen und Krücken. Die Stadt, die Luther als »Pfaffennest und geistlichen Stapelort« verhöhnte, gilt der Industrie und Handelskammer dank Opel und seiner Zulieferfirmen als Wirtschaftsstandort mit Zukunft. An der Frau am Marktplatz, die hinter ihrem Stand polnische Jeans und Shirts feilbietet, sind das steigende Bruttoinlandsprodukt, einstellige Arbeitslosenquoten und die erfreuliche Bevölkerungsentwicklung allerdings vorübergezogen. Die gebürtige Lausitzerin steht hier bereits seit der Wende – und wartet auf Kunden. Die teuren Restaurants mit internationaler Speisekarte, die sich um den Markt herum angesiedelt haben, kann sie sich nicht leisten, sie bevorzugt die Hausmannskost in den Kneipen der Seitenstraßen. Das Theater ist immer voll, sagt sie mit Blick auf das Elisabeth- Musical. Von der zukünftigen Schließung des Musiktheaters hat sie nichts mitbekommen.
»Man wacht auf«, sagt Tomasz Kajdanski, »und sieht: Ein Teil der Bücher ist verbrannt, eine Vision von Musik, die man einst liebte.« Seit drei Jahren hat der Pole in Eisenach seine Heimat gefunden. Sein preisgekröntes Tanztheater wird von internationalen Kritikern mit den Spitzenensembles der Metropolen verglichen. Kajdanskis kleines Zimmer im Dachgeschoss des Theaters wirkt mit seinen halbrunden Fenstern wie die Kajüte eines Schiffes. Obwohl sein Tanztheater sogar aufgestockt werden soll, fühlt er sich weder als Gewinner noch als Verlierer. »Ich habe Angst«, sagt er, »das, was man als Geschichte hat, geht verloren«. Sein Beitrag zum Elisabethjahr, Elisabeth. Ikone, hatte im März Premiere: 16 Szenen von der Vermählung bis zur Apotheose einer jungen Frau, die nie tanzte. Ihr Leben, von Mythen und Legenden bis zur Unschärfe verzerrt, will auch er weder aufhellen noch erklären. »Es geht nicht um Schritte, Pirouetten«, sagt Kajdanski, »sondern um Seelenzustände.« Sein Ensemble, Heimat für Exilanten aus allen Himmelsrichtungen, verschmilzt als eine Art Goethe-Institut klassisches Ballett und modernes Tanztheater. Er selbst fühlt sich zu alt zum Tanzen. Worte lügen, sagt er, der Körper nicht. Seine Elisabeth tanzt zunächst konventionell, in klassischen Kostümen, doch in den folgenden 70 Minuten entblößt sie sich immer mehr als Besessene, wahnhaft Verzückte: Sie entreißt den Rittern Schwerter, wälzt sich auf nackter Erde, badet im Blutmeer der Rosen und steigt schließlich, gekrönt von einem Dornenkranz, das Haupt voll Blut und Wunden, in den Himmel. Dazu erklingt, mitreißend, expressionistisch, das Orchester der Landeskapelle unter der Leitung von Tetsuro Ban. Unter den Zuschauern des Balletts sind viele Kinder. »Wie kann man für einen Kilometer Autobahn Papageno weghaben wollen?«, fragt Kajdanski, »Ist es nicht eine Million wert, Kinder glücklich zu machen?«
Das »Schiff zur Glückseligkeit« wird bald zum letzten Mal Anker werfen. Der Theaterbus hat Musiker und Sänger zur Vorstellung der Schlagerette Minirock und Petticoat über die Kleinstädte ins Herzstück des Thüringer Waldes zur Bergbühne Fischbach befördert. Zum Freilichtkino und zur Gaststätte Ziegenhütte strömten in den sechziger Jahren, als sie noch nicht verreisen konnten, die Bewohner der umliegenden Kleinstädte. Fast 500 sind auch an diesem Samstagnachmittag trotz herbstlicher Kühle gekommen. Familien mit Kindern, Männer wie Frauen in derben Hosen und schwarzen Lederjacken, die Butterbrote und Thermoskannen auspacken. Die Originalversion der Schlagerette lässt einen Ausflugsdampfer in den fünfziger Jahren den Rhein entlangfahren. Dank Eisenachs Dramaturgie ist daraus eine Tour auf der Weser bis zur Werra an die Zonengrenze geworden, die sich ein Jahrzehnt später zur Kreuzfahrt auf dem Mittelmeer mausert. Die satirische Rahmenhandlung um eine feuchtfröhliche Kleinbürgergesellschaft im Wirtschaftswundertaumel gibt Anlass zu einem west-östlichen Schlagerbukett der fünfziger und sechziger Jahre. Rote Rosen regnen, Marmor bricht sich mit Stein und Eisen, und flugs ist man verliebt, verlobt, verheiratet und wieder geschieden. Der Osten, bevor er zum Spielfeld westlicher Glücksverheißungen wurde, kann sich im Spiegel zerplatzter westlicher Träume so mit seiner aufgezwungenen Provinzialität aussöhnen. Kittelschürzenbewehrte Frauen und Männer vom Bergbühnen Verein bieten selbst gebackene Johannisbeerschnitten, Apfelstreusel und Rostbratwürste zu DDR-Dumpingpreisen. Manche Besucher sparen sich die Eintrittsgelder und lauschen den Melodien unten vom improvisierten Café aus, während im Hintergrund Wanderer in Kniebundhosen ausschreiten. Das Rennsteiglied, eine Art thüringische Nationalhymne, wird nach heftigem Applaus als Zugabe gegeben. »Bin ich weit in der Welt, hab ich Verlangen, Thüringer Wald nur nach dir.«