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Welt-Schneemann
Der russische Clown Slava Polunin ist ein Meister der absurden Poesie. Jetzt kommt er mit seiner »Snowshow« nach Deutschland
Von Barbara Lehmann
17. Dezember 2007 Quelle: DIE ZEIT, 13.12.2007 Nr. 51
Ein Bettschiff mit einem Besen als Mast und einem Laken als Segel gleitet durch das Bühnenmeer. Drei Spielzeughäuser mit erleuchteten Fenstern werden an einer Schnur durch eine Schneelandschaft gezogen. Ein durchsichtiger Ball, der einen Mann wie eine Fruchtblase umhüllt, schwebt vorbei. Die Meister dieses Universum sind die Clowns: Slawa Polunin, im weiten gelben Overall, halb Kosmonaut, halb Taucher, und seine Gefährten – amphibienhafte Gestalten in grünen Gewändern. In Zeitlupe taumeln sie durch die Snow-show, ziehen am Sternenhimmel entlang oder pflügen durch Wassermassen. Sie wagen den Aufbruch in den Kosmos, um in der Heimat anzukommen.
»Meine Wurzeln verteilen sich über die ganze Welt«, sagt der 57-jährige Slawa Polunin. »Meine Küche ist in Singapur, mein Schlafzimmer in Mexiko und meine Diele in Russland.« Seit nahezu zwanzig Jahren wechseln er und seine international zusammengewürfelte Bühnenfamilie allmonatlich Länder und Kontinente. 1989 erstellte Polunin eine Liste von acht Städten – darunter London, Paris, New York und Berlin –, in denen er sich vornahm, eine Zeit lang zu leben. Heimat ist für einen der berühmtesten russischen Clowns nicht gebunden an den Zufall des Geburtsorts, sondern bedeutet die Harmonie von innerem Zustand und Außenwelt. »Bloß keine überflüssige Bewegung!«, sagt Polunin, »Heimat – das sind konkrete Dinge und Rituale.«
Das Weltbürgertum ist auch die Folge einer abgeschotteten Jugend in der Breschnew-Zeit. Wie viele andere lebte Polunin in einer Art innerer Emigration – auch davon erzählen seine wortlosen, surrealen Bildwelten. Die preisgekrönte Snowshow, die 1993 Premiere hatte, zeigt ihn und seine Mitspieler, wie sie, nach Luft schnappend, Monde und Sonnen mit Netzen fangen und die Winde mit minimalen Gesten bändigen und im nächsten Moment von Unwettern niedergeworfen werden. Schon der Anfang der Show zeigt die Ausweglosigkeit der Lage. In roten Riesenpuschen schlurft Polunin auf die Bühne, schraubt sich hoch, wippt und fällt wieder zusammen. Später schnappt er sich einen Koffer, der nichts enthält als Luftballons, einen Hut und einen Trenchcoat. An der Zwischenstation »Sehnsucht« hängt er die Kleidungsstücke an einen Ständer, seine Hand schlüpft in einen Ärmel – und flugs wird aus dem Ständer die imaginäre Geliebte, deren Brief in seine Taschen wandert. Pfiff, nächstes Bild: Als Dampflok faucht Polunin mit rauchendem Zylinder über die Bühne. Er zerreißt den Umschlag, die Schnipsel schneien herab; aus dem Tête-à-Tête mit sich selbst wird das Liebesfest für alle, bei dem sich die Zuschauer in schneelballselige Kinder verwandeln.
Polunins Kunst entsteht aus minimalen Gesten. Aus alten Bühnentraditionen und Alltagsbeobachtungen, aus Kalkül und Improvisation schafft er etwas Neues, Absurdes, Widersprüchliches. Polunins Humor ist demokratisch: Wie selbstverständlich macht er Zuschauer aller Kontinente, Alters- und Bildungsklassen als Mitspieler zu Reisegenossen.
Nowosil, das Dorf seiner zentralrussischen Kindheit, dessen Hügel, Flüsse und Wälder, hat dieser leise Clown ebenso im Koffer wie die bescheidenen Utensilien aus dem Spielzeugladen der Eltern. Auch Chaplins Kid, das den Neunjährigen in der Neujahrsnacht an den Fernseher bannte, bis die Mutter das Gerät abstellte, hat ihn zeitlebens begleitet – die Geburt des russischen Clowns aus dem Geist des großen Amerikaners. Am nächsten Morgen rüstet sich der Provinzjunge mit Stock, Hut und Riesenschuhen aus; von da an sammelt er bei privaten Festen, Provinzwettbewerben und in Kulturhäusern vor einer wachsenden Fangemeinde Erfahrung. Auch der weitere Bildungsweg verläuft klassisch: Die Mutter zwingt ihn zum Ingenieurstudium am Leningrader Ökonomischen Institut. Jahre später wird er als Manager einer globalisierten Clownscompagnie die Verträge für die triumphalen Gastspiele am Broadway selbst aushandeln.
Noch 1985, als Polunin die ausgesperrte Außenwelt zu einem internationalen Clowns-Festival nach Leningrad holt, reagiert der Geheimdienst mit Auftrittsverboten. Ein Jahr später schon gründet Polunin das erste private Clownstheater, dessen hundert Plätze sich auch ohne Spielpläne und Reklame füllen. Mitte 1989 macht er sich mit einer 150-köpfigen westöstlichen »Karawana mira«, der Karawane der Welt und des Friedens, auf, den Eisernen Vorhang symbolisch zu unterwandern. Der Zug der Narren endet auf der Straße des 17. Juni vor dem Brandenburger Tor – ein Vierteljahr später ist die Berliner Mauer gefallen. »Der Künstler ist seiner Zeit voraus«, sagt Polunin. »Den Politikern bleibt nur, ihm zu folgen.« Ein Clown Gorbatschows, als den ihn damals die westliche Presse titulierte, sei er nie gewesen. »Wer spricht noch von Gorbatschow?«, sagt er selbstbewusst, »ich aber stehe immer noch auf der Bühne!«
Während der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 gastiert Polunin in Kiew – und weigert sich aus Solidarität mit der Bevölkerung, die Strahlenzone zu verlassen. Später wird die Kleidung der ganzen Truppe verbrannt, ihre Köpfe werden kahl geschoren. Die Grenze nach Italien für das anschließende Gastspiel passieren sie – halb buddhistische Sektierer, halb Terroristen – glatzköpfig und in Kitteln.
Während des Moskauer Augustputsches 1991 wird die Truppe unfreiwillig von einer Panzerkolonne eskortiert. »Jeder Staat ist per se militarisiert«, lautet Polunins knapper Kommentar zum permanenten Ausnahmezustand nicht nur in seiner Heimat. Leben in Russland betrachtet er bei den Widrigkeiten des Alltags und der bürokratischen Willkür als Energieverschwendung. Dennoch treibt es ihn jedes Jahr für zwei Monate zurück ins Land seiner Herkunft. Ein eigenes Zelt macht ihn inzwischen unabhängig von Gastspielorten. Eine Kunst-Schutzzone ist auch das »Schiff der Narren«, ein schwimmendes Kulturzentrum, mit dem Polunin 2003 von Moskau nach Samara die Wolga entlangfuhr. Unlängst machte er eine Tournee durch Sibirien. »Im Gegensatz zu den instabilen neunziger Jahren fühlen sich die Menschen in Russland wieder sicher und sind offen fürs Theater.«
Eine Schlüsselszene der Snowshow, bereits Anfang der Achtziger im sowjetischen Fernsehen gesendet, zeigt Polunin zwischen zwei riesigen Plüschtelefonen. Je angestrengter er zwischen ihnen hin- und hereilt und in den roten und gelben Hörer brüllt, zirpt, säuselt und flötet, umso beredter wird die Funkstille am anderen Ende. Dieser Clown ist kein bloßer Dissident des Alltags, sondern ein an Montaigne, Rousseau und den buddhistischen Zen-Meistern geschulter Philosoph des Paradoxen im Konkreten. Auch die russischen Ikonen des Absurden, der fantasiesprühende Metaphysiker Gogol und der lakonisch-bittere Daniil Charms, stehen bei Polunin Pate.
Seine neuen Projekte sprengen den Rahmen des Theaters. In diesem Jahr übergab ihm die Gouverneurin von St. Petersburg für einen Tag die Stadtschlüssel; die mit Gänseflaum überzogene Belegschaft einer Fabrik und ihr Fuhrpark dienten ihm als Hofstaat. Demnächst will er den Moloch Moskau in einem »weißen Karneval« in eine Metropole der Engel und des Lichts verwandeln. Mit dem amerikanischen Filmregisseur Terry Gilliam gestaltet er eine Art dunkles Gegenprojekt, Der Teufel. Er brauche nicht daran zu arbeiten, sagt Polunin. Es warte auf ihn.
»Slavas Snowshow« vom 18. Dezember bis zum 6. Januar 2008 im Konzerthaus Dortmund, danach in Wien und Berlin