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Die wahre Geschichte einer halben Frau
Tatort Sarajevo: Auf den Spuren des Films »Grbavica«, der bei der Berlinale den Goldenen Bären gewann und von den Massenvergewaltigungen im Jugoslawienkrieg erzählt.
Von Barbara Lehmann
29. Juni 2006, 14:00 Uhr / Editiert am 1. Juli 2006, 4:09 Uhr Quelle: DIE ZEIT, 29.06.2006
Manchmal, sagt Asmira (Name von der Redaktion geändert), in der Nacht, kommen sie wieder. Sie tragen Masken, Kreuze baumeln auf behaarter Brust, auf Mützen mit Kokarden blitzen vier Halbmonde, das Zeichen der serbischen Tschetniks. Sie werfen sich auf mich, zwei, drei auf einmal, Flaschen, Gläser, Gewehrläufe bohren sich in meinen Körper, meine Kinder schreien, sie werfen sie hoch, spielen mit ihnen Fußball, ich schreie, mein Mann streicht mir über die Wange.
Alles ist nur ein Traum, unwirklich wie das frühsommerliche Sarajevo vor dem Fenster, die endlosen Hochhaustürme von Alipasino Polje mit ihren geweißten Mauern. Ab und an blitzen mittendrin verräterisch frische rote Ziegelflecken, an diesen Stellen waren die Zerstörungen am schlimmsten. Jungs und Mädchen hüpfen auf den Bürgersteigen über die Trichter, welche die Granaten von den umliegenden Hügelketten aus in den Asphalt bohrten während der 1395-tägigen Belagerung der Stadt. Jetzt wirken die Hügel grün und friedlich, auch wenn dort nun Ostsarajevo ist, die Republik der Serben, wo Asmiras Peiniger von damals unbehelligt leben. Auch Bijeljina, ihre Heimatstadt, ist inzwischen serbisches Gebiet. Nie mehr will sie dorthin zurück. Komme was will, hat sie ihren Kindern gesagt, aber dort dürft ihr mich unter keinen Umständen begraben.
Ein vergewaltigtes Leben, tausendfach zersprungen, notdürftig zusammengeleimt. Zwei winzige, saubere Zimmer für vier Menschen, fast eine Idylle, wenn nur die Plastiktüte mit Asmiras Medikamenten in einer Sofaecke nicht wäre. 250 Euro kosten sie im Monat, woher nehmen, der Mann ist arbeitslos, ihre Invalidenrente von 45 Euro deckt nicht mal die Miete. Die städtischen Behörden wollen sie aus der Wohnung weisen. Mit ihrem Mann hat sie über das im Krieg Erlebte nie gesprochen.
Die Opfer treibt es in die Scham, die Lebenslüge. Asmiras fiktive Filmschwester heißt Esma. In einer der Anfangszenen von Jasmila Žbanićs Film Grbavica. Esmas Geheimnis , der auf der Berlinale überraschend den Goldenen Bären gewann und jetzt ins Kino kommt, sieht man fröhliche Gesichter, Kissen fliegen durch die Wohnung in Grbavica, jenem Stadtteil von Sarajevo, den die Serben Anfang der neunziger Jahre besetzten. Esma, gespielt von der serbischen Schauspielerin Mirjana Karanović, und ihre zwölfjährige Tochter Sara (Luna Mijović) balgen sich kurz nach dem Aufstehen. Plötzlich wirft Sara die Mutter zu Boden, begräbt sie wie eine siegreiche Amazone unter ihren gegrätschten Beinen, biegt ihre Arme nach hinten. Die Mutter erstarrt, beendet abrupt das Gerangel. Sara ist der Bastard eines serbischen Vergewaltigers, doch Esma hält ihre Tochter in dem Glauben, ihr Vater sei als Soldat gefallen. Eine Klassenfahrt zerstört diese Legende. Zweihundert Euro soll sie kosten, doch die Kinder von Schechiden, den islamischen Glaubenskriegern, müssen fast nichts zahlen. Esma hastet aus dem Haus, das im Käfig der Vergangenheit gefangene Tier hat eine Frist von wenigen Tagen, das Geld zu besorgen. Im Club Amerika, wo sich Mafiosi und Eufor-Soldaten mit Animierdamen vergnügen, wird sie nachts als Kellnerin jobben. Der Besitzer, durch Schwarzhandel im Krieg reich geworden, mustert ihre zugeknöpfte Erscheinung. Wird eh nicht lange durchhalten, sagen seine Blicke. Später sitzt Esma stumm in einem Zentrum für im Krieg vergewaltigte Frauen. Sie sollten öfter kommen, sagt ihre Therapeutin, nicht bloß einmal im Monat, um ihr Geld abzuholen.
Über mein Leben im Krieg will ich nicht reden, sagt auch die 32-jährige Regisseurin . Das sei ihr zu privat. Jasmila Žbanić weist auf den jüdischen Friedhof von Grbavica, der auf einer Anhöhe kauert. Selbst von dort, sagt sie, haben sie geschossen. Grbavica ist ihr Debüt als Autorenfilmerin, mit kleinem Budget produziert von ihr und ihrem Mann, den sie als Studentin der Film- und Theaterakademie im Luftschutzkeller kennen lernte. Während des Krieges hat sie ihr Leben immer wieder den ausländischen Journalisten erzählt, wie sie in der belagerten Stadt ausharrten, ohne Strom, Heizung, Wasser. Worte, die nichts bewirkten. Die Eingeschlossenen hatten nur noch sich und ihre Toten, jeden Tag waren es mehr als 30.
Das mehrstöckige Wohnhaus, in dem Jasmila schon als Studentin wohnte, erhebt sich auf der besseren Seite, mit Blick auf den schlammgrünen Fluss Miljacka, der sich, friedlich glucksend, durch eine Senke windet. Damals bildete er die Frontlinie zum besetzten Grbavica, in das man nur mit Passagierscheinen gelangte. Auf der kleinen Steinbrücke der Brüderschaft und Einheit wurde das erste Opfer des Krieges, eine Medizinstudentin, bei einer Kundgebung erschossen. Jetzt stelzen junge Frauen hinüber, mit Kajalaugen und kunstvoll drapierten Kopftüchern als Prinzessinnen aus 1001 Nacht gestylt.
Die Wut ist noch immer in mir, sagt Jasmila. Jeden Tag hat sie das besetzte Viertel vor Augen, in dem vor allem die Truppen der Führer Arkan und Seselj brandschatzen, foltern, morden. Mit der Übergabe Grbavicas im Februar 1996 endet auch die Belagerung Sarajevos. Die einstigen Bewohner des Viertels, Angehörige der jugoslawischen Volksarmee, Professoren, Ärzte und Rechtsanwälte, die Elite Sarajevos, sind tot oder geflohen. Inzwischen haben die Paradebauten von Titos Jugoslawien hier und da knallige Rosa- und Grüntöne aufgelegt. Vertriebene aus den nun serbischen Gebieten, ehemalige Dörfler, hocken breitbeinig auf den Bänken vor den Eingängen und beäugen misstrauisch die Fremden. Das ehemals kosmopolitische, als Jerusalem des Balkans gerühmte Sarajevo ist nun eine nahezu rein muslimische Enklave, die frühere Dreifaltigkeit der katholischen Kirche, Synagoge und Minarette wirkt nur noch wie eine Staffage. Bosnien und Herzegowina, dieser am Reißbrett der internationalen Diplomatie in Dayton entworfene Staatenverbund, zwingt die einstigen Kriegsparteien in die Zwangsgemeinschaft einer bosnisch-kroatischen und einer serbischen Entität und verweist sie auf streng voneinander getrennte Territorien. Die bei den Bosniern ungeliebte Zwangsehe funktioniert nur unter Kuratel des Westens. Die Regisseurin spricht aus, was viele hier denken: Dayton habe Miloševićs und Karadžićs Politik der ethnischen Reinigung logisch vollendet, die Republik Srpska sei den Serben als Belohnung für den Völkermord geschenkt worden.
Auf einer kleinen Anhöhe stehen braune Garagen. Hier, sagt Jasmila, wurde einst gefoltert. Die Gesichtslosigkeit des Viertels und seiner nicht verwurzelten neuen Bewohner bildet einen brüchigen Boden, unter dem die Vergangenheit weiter fault und modert. Jasmila Žbanić hebt die Bretter.
Wie viele Frauen im Krieg vergewaltigt wurden, weiß keiner. Die Schätzungen schwanken zwischen 1000 und 20000. Aus Scham und Angst schweigen die meisten bis heute. Serbische und montenegrische Männer, als Freischärler oder auf Befehl von Karadžić und Mladić, setzten die Kriegswaffe Vergewaltigung systematisch ein, in Lagern, Hotels, Wohnungen, Sporthallen. 2001 stuft das internationale Kriegsverbrechertribunal in Den Haag die Vergewaltigungen von Frauen im Krieg als Verbrechen gegen die Menschlichkeit ein. Doch Bosnien und Herzegowina verweigert den Frauen bislang den Status als ziviles Kriegsopfer. Einzig nichtstaatliche Organisationen wie das bosnische Frauenzentrum Medica Zenica springen in die Bresche. Doch die internationalen Spendengelder werden von Jahr zu Jahr weniger. Als Grbavica im bosnischen Teil des Landes anlief, nutzte Jasmila Žbanić mit den Frauen von Medica Zenica den Rumor um den Film, um eine Kampagne für die Würde der Überlebenden zu starten.
Sehe ich meinem Vater ähnlich?, fragt Sara im Film ihre Mutter, du erzählst über ihn so wenig. Nein, antwortet Esma, du bist nach mir gekommen, von ihm hast du nur die schwarzen Haare. Esma duckt sich weg vor lästigen Fragen, in ihrem gekrümmten Rücken staut sich das Gefühl, unwert zu sein, schmutzig. Du musst mehr Busen zeigen, sagt ihre Kollegin Jabolka, ein Animiermädchen aus dem Club, dann bekommst du auch mehr Trinkgeld.
Pelda (Leon Lučev), der Bodyguard des Nachtclubbesitzers, und sie bilden ein unmögliches Paar. Ein bulliger Mann, dem der Krieg sein Wirtschaftsstudium nahm und der in den Leichenhallen die Plastiksäcke nach den Überresten seines Vaters durchsucht, und die kräftige Frau mit dem Kurzhaarschnitt. Einst wollte sie Ärztin werden. Über den im Nebel versinkenden Dächern von Sarajevo finden sie beim Grillen zusammen. Pelda küsst ihre Hand. Sie ergreift seine, er will sie umarmen. Lass uns lieber grillen, sagt sie. In der Tasche hat er die Ausreisepapiere nach Österreich. Und wer wird dann den Körper deines Vaters identifizieren?, fragt Esma.
Hass und Hässlichkeit müsse man in Liebe und Schönheit verwandeln, sagt Jasmila Žbanić. Die hochgewachsene junge Frau kämpft sich derzeit als Vorsitzende eines bosnischen Filmwettbewerbs durch zahlreiche Drehbücher. Die erste Fassung ihres eigenen Films hat sie damals verworfen. Zu schwarz, das will keiner sehen, sagte ihr eine Freundin. Esmas Geschichte ist ein Wunschdestillat, ein lakonisches Märchen, atypisch und doch authentisch. Von der vergewaltigten Vergangenheit erzählt der Film vor allem durch Musik, Atmosphäre, Gegenstände, Augen und Gesten der Schauspieler. Esmas Vergangenheit lässt sich auch so erahnen.
Asmira erzählt von ihr, ganz konkret. Plötzlich sind sie da, sagt sie, am 31. März 1992 überschreiten die Truppen von Seselj und Arkan die serbisch-bosnische Grenze. Die ganze Straße flüchtet in den Keller unseres Hauses in Bijeljina. Gebt eure Gewehre ab, hallt es am vierten Tag durch ein Megafon, euch wird nichts passieren. Sie brechen in unser Haus ein, durchsuchen es nach Waffen, schlagen meinen Mann blutig, ich denke, er ist tot, werfe mich über ihn. Die Soldaten ritzen mir die Arme auf mit Flaschenscherben, schlagen mich auf den Rücken, ich verliere das Bewusstsein. Als ich aufwache, bin ich nackt. Blut läuft über meinen Körper, in einer Ecke des Raumes sitzt die Schwiegermutter mit den zwei kleinen Kindern, meine Schwägerin ist ebenfalls nackt, blutet. Mein Mann ist verschwunden. Ich denke, sagt Asmira, das ist das Ende, doch das ist erst der Anfang.
Ein Jahr lang bleibt Asmira mit elf weiteren Frauen eingesperrt in ein Zimmer ihres Hauses, das leer geräumt ist bis auf ein paar Matratzen. In einer Ecke hockt die Schwiegermutter mit den zwei winzigen Kindern, sie darf nicht mit ihnen sprechen. Einmal, noch am Anfang, fängt das sechs Monate alte Mädchen an zu schreien, ein Soldat wirft es in die Luft, hält das Bajonett dagegen, als wolle er das Baby zweiteilen. Asmira fällt in Ohnmacht, als sie wieder zu sich kommt, kann sie sich nicht mal mehr an ihren Namen erinnern. Egal, sie ist ohnehin eine Maschine, betet, gehorcht den Befehlen. Hunderte, Tausende werfen sich auf sie, flößen ihr Medikamente ein, Drogen, drücken Zigaretten auf ihrem Körper aus, aber das ist nicht ihr Körper, das ist auch nicht Asmira. Tötet mich, sagt sie zu den Soldaten.
Einige von den Frauen sterben, andere werden verkauft. Gerüchte über ihre Verwendung als Sexsklavin kursieren. Eines Tages betritt ihr früherer Nachbar, ein Serbe, das Zimmer, er sucht sie seit langem. Er erkennt sie nur an den Augen. Sie ist völlig abgemagert, auf dem Kopf klaffen in den langen schwarzen Haare daumengroße Löcher. Sie glaubt, er sei ein Kunde. Er zeigt mit dem Finger auf sie. Die, sagt er, will ich haben. Aber sie hat Kinder, wird ihm erwidert. Macht nichts, antwortet er, nehm ich auch. Vor Tusla setzt er sie ab. Um den Kaufpreis von 6000 Dollar, sagt er zum Abschied, brauche sie sich nicht zu sorgen, sie solle das Geld nur zurückzahlen, wenn sie könnte. Die Ärztin im Flüchtlingsheim sagt ihr, sie sei im sechsten Monat schwanger.
Gegen Ende des Films hat Esma die 200 Euro aufgetrieben. Doch die Tochter beharrt auf der Bescheinigung, alle in der Klasse haben eine, sie wird bereits gehänselt. Sara richtet eine Pistole auf die Mutter, schreit sie an, hör endlich auf zu lügen. Esma erbricht die Wahrheit. Anschließend wirft sie die Tochter zu Boden. Die lang aufgestaute Wut entlädt sich in kräftigen Schlägen. Sara will das Gehörte zunächst nicht glauben. Dann setzt sie sich vor einen Spiegel, rasiert sich eine Glatze, runter mit allem, was an den Vergewaltiger erinnert. Ohne die störrischen Haare beginnt ihr Gesicht zu leuchten. Zum ersten Mal küsst sie sich mit ihrem Schulfreund.
Der Film predigt die Fiktion einer Liebe, die größer ist als das Leid der geschundenen Seelen und Körper. In der Wirklichkeit hat fast keine der vergewaltigten Frauen ihr Kind bekommen. Asmira ließ sich das Ding im Leib mit einer langen Nadel töten, ein Stich ins Herz, ohne Betäubung, ihren Mann hat sie erst nach zweieinhalb Jahren wiedergetroffen. Er war in bosnischen und kroatischen Gefängnissen und Lagern, musste an der Front Gräben ausheben. Seit dieser Zeit haben sie nie mehr zusammen geschlafen. Sie haben ihr Ziel erreicht, sagt Asmira, ich bin nur noch eine halbe Frau.
Spenden für die Frauen in Bosnien sammelt Medica Mondiale, Sparkasse KölnBonn, BLZ 380 500 00, Kto. Nr. 45000163, Stichwort »Frauen in Bosnien«