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Von Charkiw an den Rosa-Luxemburg-Platz
Der Regisseur aus der Ukraine – Andrij Zholdak im Westen
von Barbara Lehmann 28.11.2005, 02:03 Uhr
Aus dem Osten erhofft sich das westliche – vor allem das deutschsprachige – Theater seit geraumer Zeit die notwendigen Frischzellen. Immer wieder neue sogenannte Regiestars werden importiert. Jüngstes Beispiel ist der Ukrainer Andrij Zholdak, der nach dem Luzerner Theater nun die Berliner Volksbühne bespielte. Mit mässigem Erfolg: Was in seiner Heimat beeindruckte, hält dem Transfer in den Westen nicht stand.
Andrij Zholdak thronte wie ein Gutsherr alter Art in einem westlichem Lifestyle nachempfundenen Pub, neben ihm sass die Schwester, Managerin und Wachhund. Sein roter Anorak verriet noch die östliche Herkunft, sein modischer Haarschnitt wies bereits gen Westen. Vor den Restaurantfenstern lag der Platz der Unabhängigkeit. Das Mädchen Ukraine erhob sich auf einer korinthischen Säule in den Kiewer Nachmittagshimmel, um sie herum gruppierten sich in nationaler Dreieinigkeit die Symbole des seit zwölf Jahren wiederauferstandenen Reiches: ein wehrhaftes Quartett von Kiews Stadtgründern mit Pflug, Schwert und Bogen, ein banduraspielender Bronze-Kosak und Erzengel Michail, Kiews Schutzpatron. Dazwischen bohrten sich die Glaswaben des unterirdischen Einkaufszentrums Globus ans Licht. Auch Zholdaks Blick schweifte in bessere Zonen. Auf unserem Tisch stapelten sich Videos, Artikel, Fotos seiner Inszenierungen, die als Eintrittskarte in die Welt der internationalen Festivals dienen sollten. Der Theatermann versprühte Charme und gute Laune. Charkiws Stadtobere hatte er schon erobert. «Gebt mir ein Theater in der Provinz», hatte er vor anderthalb Jahren in einem Interview gebeten, und tatsächlich hatten ihm die Administratoren des Kutschma-Regimes schon eine Woche später die Leitung des Charkiwer Schewtschenko-Theaters übertragen. Jetzt, betonte er stolz, toure die Truppe mit seinen Inszenierungen bereits durch die Welt. London, Wien, Tokio – Städtenamen, die auf seinen üppigen Lippen wie Pralinen zergingen.
Trotz seinem klapprigen Wagen nahmen wir seine Heimatstadt im Flug. Eine Fata Morgana mit goldenen Klosterkuppeln, stalinistischen Hochbauten und glitzernden Einkaufszentren tauchte kurz vor uns auf und verschwand. Alles existierte nebeneinander: Rudimente nationaler Grösse und die Spuren der Herabwürdigung zum sowjetischen Vasallenstaat, kleinstaatliche Enge und anarchisches Freiheitsstreben. Wir hasteten hinein ins Innerste der ukrainischen Seele: Die Fresken der Sophienkathedrale leuchteten als Flügelschlag der Orthodoxie, während in den nur mit Kerzenlicht erleuchteten Stollen des Höhlenklosters Lawra sich langbeinige Schöne zu Hutzelweibchen krümmten, angezogen vom Sog einer jenseitigen Dramaturgie.
Turgenjew – Geiz, Geilheit, Gier
Zholdak erzählte von dem nur 100 Kilometer entfernten Tschernobyl, dessen unsichtbare Atomschwaden Kiew beinahe in eine dritte Zone verwandelt hätten, vom Hungertod der ukrainischen Bauern in den zwanziger Jahren, den Stalins Kommissare erzwangen. Sein schäbiges, getretenes Land hatte er gedanklich bereits verlassen: «Theater – das sind Träume, das ist die Droge einer anderen Welt», sagte er. «Ich will hinaus, in andere Räume.»
Gestalten in voluminösen Mänteln und hohen Hauben schwebten über die Bühne, sie trugen grosse weisse und schwarzen Kugeln, die sie wie Reliquien in slow motion über die Bühne rollten. Sie schaukelten als schwarze Schattenrisse im Bühnenhimmel oder reduzierten sich zu weit aufgerissenen Mündern. Sie wuchsen, wie auf den Bildern von Giorgio de Chirico, auf hohen Stelzen als Riesen in den Himmel, die Gesichter bedeckt von weissen Masken, oder schrumpften zu Zwergen und Vogelkreaturen. Ständig wechselten die Perspektiven, Proportionen und Tempi. Spotlights, nicht länger als ein Wimpernschlag, folgten auf lang ausgespielte tableaux vivants, somnambule Halluzinationen, in denen die Zeit gefror. Schauspieler betraten ein blütenweisses Zimmer durch Türen von der Decke her, sie sassen an einer festlich gedeckten Tafel, auf die man wie aus der Vogelperspektive schaute.
Zholdaks fünfstündige Aufführung nach Turgenjews Bühnenklassiker «Ein Monat auf dem Lande» zeigte eine dekadente Gutsbesitzergesellschaft im Reigen von Müssiggang und Ennui. Die Grössenverhältnisse auf der Szene verwiesen auf reale patriarchal-autokratische Hierarchien, auf Geiz, Geilheit, Gier. Nadja, die junge, in den Studenten Beljajew verliebte Gutsbesitzerin, wuchs immer wieder als Riesin neben der zur Zwergin geschrumpften Nebenbuhlerin Vera empor, ihrer mittellosen Pflegetochter, sie knallte sie gegen die Wand, kläffte sie an, schlug auf sie ein. Die Bühnenwelt erodierte zum Tollhaus: Menschen, zerstückelt, amputiert, wurden zu einbeinigen, kopflosen Wesen, bohrten sich mit den verbliebenen Gliedmassen durch Leinwände und Bildausschnitte. Schliesslich verwandelten sie sich in tierische Kreaturen, ausser Rand und Band geratene Zombies, die übereinander herfielen, ihr Fleisch aneinander rieben, wie Hunde kopulierten.
In den schnellen Kontrasten und Brüchen lagen kalkulierte Stilwechsel. Die heterogene Wirklichkeit fiel auseinander: «Der Erdball ist eine nicht steuerbare Pest, ein schwarzes Chaos», sagte Zholdak im Zug nach Charkiw. «Viele Künstler der Welt schlagen Alarm. Ich würde gerne eine Aufführung über den ganzen Menschen machen. Doch meine Antennen, die Signale, die ich erhalte, erlauben mir das nicht.» Vor den Zugfenstern tauchten ausgelaugte Felder, veraltete Fabrikanlagen und zerfallende Häuser auf. Es war, als sei ein böser Gott mit einem giftigen Pflug über die fruchtbare schwarze Erde gefahren.
Rammstein und Eminem – Charkiw
Charkiw. Eine Zweimillionenstadt im östlichen Grenzland der Ukraine. Dunkelheit, Schlaglöcher, Kriminalität. Der konstruktivistische Betonquader der Gazprom der früheren Hauptstadt der Sowjetukraine verschwand unter einer undurchdringlichen Schicht von Dreck und Asche, obwohl die Panzer-, Flugzeug- und Trakorenfabriken mit der Entlassung der Ukraine in die Souveränität vorübergehend ihre Produktion eingestellt hatten. Jetzt rappelten sie sich wieder auf, auch ein neuer Mittelstand entstand. Von den ehemaligen prunkvollen Kaufmannshäusern des 19. Jahrhunderts blieb einstweilen nur die Leere der Wandskelette, doch hin und wieder blitzte an verschmutzten Hauseingängen der Glasfleck eines Jugendstilornaments oder der Marmor einer von Proletarieräxten zerkratzten Fensterbank auf.
In der Mitte des Platzes der Freiheit, auf den gleich mehrere Fussballstadien gepasst hätten, erhob sich das Denkmal des NKWD-Chefs Felix Dschersinski. Nicht weit davon feierte ein rotes Granitdenkmal mit vorwärts stürmenden Matrosen, Kriegern und Arbeiterinnen den Sieg der Revolution. Ab und an sah man ein Zeichen der neuen Zeit: Auf dem russischen T34-Panzer, der sich wie eine Riesenschildkröte hinter dem Monument zum Roten Oktober aufbaute, stand «Rammstein» geschrieben, und sein englischer Kollege daneben aus dem Ersten Weltkrieg trug das schwarze Graffito «Eminem must die».
Die Häuser in der zentralen Einkaufsmeile hatten sich, ein Tribut an die schöne neue kapitalistische Welt, im Erdgeschoss vorgebaute Minitempel aus Glas und Chrom zugelegt, in denen nun statt sowjetischer Buchklassiker Designer-Ware schwebte. Zholdaks Theater versteckte sich in einer Einkaufsstrasse. Eine Reklametafel an der Aussenwand wies den Weg zu einem Spielsalon, während die Schaukästen des Foyers noch immer die heroischen Bilder des Fronttheaters zeigten.
Das Leben des Iwan Denissowitsch
Schäferhunde, Käfige, die nackte Kreatur. Die Welt war zum Lager geschrumpft. Gefangene und Wärter, eine irrsinnige Meute, waren nicht zu unterscheiden. Geschlechtslosen Kreaturen mit kahl geschorenen Köpfen, einige mit grotesken Hasenohren, riss man die Lagerkluft vom Leib, sie wurden durch Käfige gejagt, mit Stiefeln getreten, wie Pakete nackt durch die Luft geschmissen. Nicht «Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch» war hier zu sehen, vielmehr sein ganzes beschissenes Leben. Der dröhnende Realismus war in Zholdaks Adaption von Solschenizyns berühmter Tauwetternovelle extrem künstlich.
Im zweiten Teil nahmen Männer in schwarzen Jacketts feierlich an einer weissen Tafel Platz, sie bespritzten einander mit Eierfontänen, pappten sich und anderen Eierbrei ins Gesicht oder gebrauchten die Eier als Wurfgeschosse. In diesem Kindergarten-Grand-Guignol, einem Todestanz der Unmenschlichkeit, hatte das Individuen ausgedient. Der Einzelne war nur ein Schräubchen in der menschenverschlingenden totalitären Maschinerie des Gulag. Solschenizyns humanes Pathos wurde unter schwarzen Tüchern und Ziegelsteinen begraben. Der Nobelpreisträger hatte protestiert: Seine Erzählung werde bis zur Unkenntlichkeit als expressionistische Performance zerrieben.
Europa oder Russland?
Die Ukraine: eine ausgeplünderte Provinz, eine Randzone an der Peripherie der Kulturen und Zivilisationen – und doch der zweitgrösste Staat Europas, sein geographisches Zentrum. Der Versuch, das Kiewer Reich, den Kosakenstaat des 17. und 18. Jahrhunderts und die Volksrepublik von 1918 nun in ein nationalstaatliches Kontinuum zu pressen, kollidiert mit den verschiedenen Religionen, Mentalitäten und historischen Entwicklungen der unterschiedlichen geographischen Zonen. Während der Westen, einst eingebunden ins Habsburgerreich, traditionell nach Europa schaute, haben die Zentralukraine, der Osten und Süden die russische Kolonialpolitik so internalisiert, dass sie sich noch immer als Teile des russischen Imperiums empfinden.
Der landestypische Eklektizismus kann für einen Künstler einen fruchtbaren Nährboden bilden. Zholdak ist ein Sampler. Die Vereinigung des Heterogenen und Disparaten prägt seinen Stil. Alles dient zur Inspiration: die Lehren seiner Pädagogen, Anatoli Wassiljews, der Filmemacher Paradschanow und Zanussi, die Theatermodelle von Artaud bis Grotowski, kunsthistorische Sujets wie das Triadische Ballett oder Action Painting, nationale und familiäre Traumata, die Geschichten der Mitstreiter, Zuarbeiter allesamt, die immer neue Themen und Sujets liefern. Im besten Fall, wenn sich die disparaten Elemente unter einem starken eigenen Antrieb bündeln, werden daraus grosse Inszenierungen. Im schlimmsten Fall gerät das Bühnengeschehen aus den Fugen.
Berlin
Andrij Zholdak an der Berliner Volksbühne. Ein Missverständnis. Castorfs Haus, ein als vermeintlicher Hort der Rebellion perfekt in die Gesetze des Marktes eingepasstes Unternehmen, zapfte frisches Blut. Von Zholdak, dem Berserker aus dem Osten mit der politisch inkorrekten existenziellen Wut, erhoffte man sich neue Impulse. Eine willkommene Chance, sich als Ort des längst verlorenen Widerstands neu zu positionieren. Doch Charkiw als Vorhof der Hölle konnte am Rosa-Luxemburg-Platz nicht zünden.
Als Vorspiel zeigte man zunächst Zholdaks Turgenjew- und Solschenizyn-Adaptionen. Doch offensichtlich war die Volksbühne-Technik so überfordert, dass beim Rumpeln und Krächzen der Umbauten der halluzinatorische Sog der Aufführungen verloren ging. Zholdaks letzte Charkiwer Inszenierung frei nach «Romeo und Julia», eine Koproduktion mit den Berliner Festspielen, bildete den Abschluss. Wir sahen einen müden ersten Teil, mit lustlos choreographierten nackten Männer- und Frauenmarschreihen, die sich eine Stunde lang an den weissen Pappmauern von Verona entlangquälten. Dann suhlten sich alle im Kot und bewarfen sich damit.
Nach einer halbstündigen Umbaupause wurde es, ganz im Sinne der Volksbühne, zeitgeistiger und politischer: Der ukrainische Bruderkrieg mit den üblichen Verdächtigen von Juschtschenko bis Kutschma wurde auf Video als plakative Kritik an der orangen Revolution vorgeführt; zwischendrin flimmerten als Bildstörung Herr Putin und Frau Merkel. Abtreibungsföten wurden in Einmachgläsern versteigert – tabufreie Klassikerentrümpelung. Weiss bestrumpfte Girlies mit adretten Zopfkränzen à la Julia Timoschenko stürmten pausenlos einen Laufsteg, geilten sich an Ecstasy auf, boten lasziv die athletischen nackten Körper zur Schau. Am Schluss suchten sie das Weite. Zurück blieben in trübsinniger Kasernengemeinschaft die Männer, wichsend.
Zholdak hatte offensichtlich als Vorbereitung für seine erste Volksbühne-Arbeit in den letzten Monaten einen Schnellkurs in Sachen Schleef, Castorf, Bob Wilson und Giorgio Agamben zu absolvieren. Das Unverdaute, schnell einverleibt, wurde erbrochen. Dem Regisseur, vom Zauberstab der Dekonstruktion berührt, ging die künstlerische Puste aus. Das Wesentliche hatte er verloren: Phantasiewelten, die sich aus nationalen Traumata speisen.
Rausschmiss
Denn Zholdak, dieser Partisan in seinem eigenen Theater, bezog aus der Reibung mit dem einheimischen Publikum und den Behörden seine Impulse. Die babylonische Utopia-Station Ukraine, dieses Transitgebiet für unterschiedliche Völker, Denkarten, Stile, hatte ihn beflügelt. Doch die Kot- und Nacktheitsorgien in «Romeo und Julia» haben seine einheimischen Karriere jäh beendet. Was das russlandhörige Kutschma-Regime jahrelang zähneknirschend toleriert hatte, wurde für die neue westukrainisch-nationalistisch gestimmte Regierung unter Wiktor Juschtschenko zum Affront. Die beleidigte Nationalseele schlug in Form von Beschwerdebriefen zahlreicher patriotisch gesinnter Organisationen zurück.
Der neue Gouverneur forderte Zholdak auf, binnen 24 Stunden das Theater zu räumen. Zholdak unterschrieb sein Entlassungsgesuch und gelobte Schweigen; dafür wurden ihm die Berliner Gastspiele ermöglicht. Man stellte einige Schauspieler des Schewtschenko-Theaters für seine erste Regiearbeit an der Volksbühne frei. Vor der Premiere von «Medea in der Stadt» präsentierte er die Geschichte seines Rausschmisses der Presse. Der ukrainische Regie-Oligarch, der im Gegensatz zu seinen mit einem Hungerlohn abgespeisten Mitarbeitern im Westtheater längst Spitzengagen kassierte, trat als Opfer auf.
Prostitution, Pädophilie – Medea
Doch kaum hatte Zholdak die Ukraine verlassen, wusste er auch über seine Stadt nichts mehr zu erzählen. «Medea in der Stadt» war ein Abend der Desorientierung und der Leere. Ungeschönt realistische Innenansichten aus Charkiw sollte der erste Teil wohl bieten, doch mit Prostituierten, Organhandel, Pädophilie zitierte er nur Klischees. Wir sahen einen durchgeknallten, möbeldemolierenden «Professor» und seine Gäste, meist hysterische Zicken, die er malträtierte, massakrierte, aus dem Fenster warf. Zwischendurch, als müde Reminiszenz an Marthaler-Abende, spuckte ein Lift für die nächste Gewaltaktion neues Menschenmaterial auf die Bühne. Die Zwangsjacke des Dokumentarischen führte zum Klamauk. Die Volksbühne-Ästhetik wurde zum östlichen Produkt-Imitat verramscht.
Das Outsourcing des Labels «Ost», das praktischerweise in den eigenen hochsubventionierten Volksbühne-Wänden erfolgte, offenbarte eine tiefe Krise. Der wahre wilde Osten à la Zholdak entpuppte sich, wie in den chic aufgemotzen Strassen rund ums Volksbühne-Karree, als der schlecht nachgemachte Westen. Im zweiten Teil befreite sich Zholdak aus der Umklammerung des Ortes und versuchte, in seine eigenen Bildwelten zurückzufinden. Aber der Abend zerfranste. Zholdak nahm Zuflucht zum Selbstzitat. Kein Bild prägte sich ein.
Am Schluss, immerhin, ein Befreiungsschlag: der Aufstand der Kinder. Sie räumten auf mit dem ganzen Krampf und machten Tabula rasa, indem sie nicht nur die Eltern, Jason und Medea, niederballerten, sondern gleich auch noch die Bühnenarbeiter entsorgten. Dann liefen sie hinaus in den Berliner Abend und verschwanden im Untergrund. Vielleicht hat sich auch Zholdak längst wieder in einem ukrainischen Provinztheater verbunkert.
Die Slawistin Barbara Lehmann arbeitet als Übersetzerin und Publizistin in Berlin.