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Kunst in Zeiten der politischen Krise
Literaturfestival in Odessa
von Barbara Lehmann9.10.2015, 05:30 Uhr
Die politischen Spannungen waren ein konstantes Thema an dem von Hans Ruprecht und Ulrich Schreiber in Odessa organisierten Literaturfestival. Gleichwohl spielte die Kunst ihre zentrale subversive Rolle.

Odessa ist noch heute – oder vielmehr: heute mehr denn je – ein Ort der Gegensätze und der Widersprüche. (Bild: George Georgiou / Panos)
In seinen schönsten Momenten war das Festival ein Fest. Dann vergassen alle, Literaten wie Besucher, den russisch- ukrainischen Bruderkrieg, die Zersplitterung des Landes, die Blutspur der Zerstörung. Odessa, die Hafenstadt am Schwarzen Meer, einst Sehnsuchtsort und Domizil für Puschkin, Tschechow, Bunin, rückte aufs Neue aus der Peripherie ins kulturelle Zentrum.
Das Festival war kosmopolitisch und lokalpatriotisch. Viele kamen von weit her: aus New York der Essayist Eliot Weinberger, aus Kanada John Ralston Saul, aus Zürich Lukas Bärfuss und Ilma Rakusa, aus Istanbul Sema Kaygusuz. Um sie herum scharten sich die Odessaer Autoren, die, als Mitwirkende und Besucher von morgens bis spätabends auf den Beinen, keine Lesung, keine Diskussion ausliessen.
Die Sprengkraft der Dichtung
Das Festival war, selbst in seinen stillsten Momenten, politisch, indem es das Politische unterminierte, durchlöcherte und sprengte. Im Vorfeld des ukrainischen Wahlkampfes konkurrierten auf den weiten Boulevards, den überfüllten Strassencafés Odessas die Plakate des Festivals mit den Porträts der Lokalpolitiker, die auf das Ukrainisch-Nationale und eine damit verbundene, vorgeblich bessere Zukunft setzten. Selbst als Eliot Weinberger mit leiser Stimme aus seinem Essay über Sterne vorlas, war die absurde Teilung des Landes, waren die Checkpoints, die Toten, war die Spaltung des Volkes in jene, die blieben, und jene, die flohen, keinen Moment vergessen. Aber Eliot teilte mit den Zuhörern die unausgesprochene Prämisse, dass selbst in Zeiten wie diesen ein Gespräch über Sterne erlaubt sein müsse.
Das Festival war demokratisch. Es feierte seine Stars – jenseits der Zuschreibungen eines ukrainischen Nationalstolzes, der in den ersten Festivaltagen das Russische an zweite Stelle verweisen wollte. Doch die Einwohner Odessas, dieser überwiegend russischsprachigen Stadt, die sich stetig mühte, dass sich Ukrainisches, Russisches und Jüdisches die Waage hielten, feierten vor allem Viktor Jerofejew, der nach zwölf Jahren Talkshow-Moderation im russischen Kulturfernsehen vorführte, wie man ein Publikum mitreisst. In seiner Lesung bot er Einblicke in die absurden Verwicklungen des Alltags eines durch die Welt jettenden Autors, der gleichzeitig verloren ist in den globalen Räumen. Offen für Unbekanntes, Fremdes, wählten sich die Besucher des Festivals ihre Lieblinge aber auch aus der «zweiten Reihe», immer auf der Suche nach Analogien zu den Erfahrungen, die ihnen, auch ohne ihr Zutun, in den letzten Jahren widerfahren waren.
Das Festival war schlitzohrig, verspielt, komisch – und nur ganz selten pathetisch. Im Mittelpunkt stand das leise Credo, von Eliot Weinberger und Lukas Bärfuss vorgetragen, dass Literatur eine Schmugglerware sei, die mit abseitigen Geschichten, mit Verrückten, Aussenseitern, Rebellen die offizielle Erzählung und alle Gewissheiten ausheble; die widerständigen Einzelnen, Individualisten eine Stimme gebe; die ihre Leser gegen Verführungen immunisiere.
Das Festival war subversiv, unkommerziell und enthusiastisch. Unterstützt von Andrei Kurkow, hatten es seine Initiatoren, die Kulturmanager Ulrich Schreiber und Hans Ruprecht, bereits vor zwei Jahren ersonnen und trotz den folgenden politischen Wirren an der Idee festgehalten. Auf das eigene Honorar verzichteten sie. Ob die Finanzierung, vor allem aus Mitteln des deutschen Auswärtigen Amtes und der Schweizer Fondation Jan Michalski, überhaupt reichte, war bis zuletzt die Frage. Nachdem zu Beginn aus ideologischen Gründen dem Ukrainischen der Vorrang eingeräumt wurde, was die Verständigung torpedierte, auch weil Simultandolmetscher aus Kostengründen fehlten, fand das Festival im Verlauf zu seiner Stimme: einem russisch-englischen Sprachmix.
Das Festival war subversiv. Es fand im Herzen der Stadt statt, im Literaturmuseum, das im weissgoldenen Ambiente neoklassizistisch prunkte. Die Abwesenheit der politischen Granden, wie des neuen Gouverneurs Saakaschwili, der in seiner georgischen Heimat mit internationalem Haftbefehl gesucht wird, war leicht zu verschmerzen. Ein Mitarbeiter Saakaschwilis forderte Serhij Zhadan während einer Diskussion im Terminal 42 aus dem Saal heraus auf, er solle sich doch an der «Revolution» aktiv beteiligen. Zhadan verwahrte sich mit den Worten, sein Platz sei unter dem Volk.
Dagegen stand die Pose von Michail Schischkin, der sich als einsamer Kämpfer gegen Kremldiktatur und Putin stilisierte und Thomas Mann als Weggefährten bemühte. Juri Andruchowytsch gab zwar ebenso wie Zhadan auch nach der Lesung seiner Texte sprachlich dem Ukrainischen den Vorrang, was allein schon als politisches Statement ausreichte, bemühte sich aber im Übrigen, sich mit politischen Kommentaren zurückzuhalten.
Das Festival war alterslos. Eine vornehme Erscheinung wie die in vielen Sprachen und Ländern beheimatete Ilma Rakusa, allein mit ihrer Wegzehrung, einem schweizerischen Flugzeug-Brötchen, bewaffnet, rockte Seite an Seite mit festlich gewandeten betagten Dichterinnen Odessas bis spät in die Nacht hinein zu Zhadans martialischen Rock-Rap-Rhythmen. Daneben tanzten sich die Studenten, bis weit nach Mitternacht, hinein in die Ekstase.
Das Festival war intim, drängte zur Beichte. Es liess im Gespräch zwischen Andruchowytsch und Jerofejew Raum für Autobiografisches, Familiäres und ermöglichte die Feststellung, dass das Schreiben über die eigenen Eltern die grösste Herausforderung sei. Andrei Kurkow erinnerte daran, dass er noch in sowjetischen Zeiten seinen Militärdienst als Wärter in Odessas Gefängnissen absolviert hatte. Eliot Weinberger gab preis, dass seine Grosseltern in Odessa beheimatet gewesen seien, um dann auf der Flucht vor Pogromen in die Neue Welt aufzubrechen.
Mit Ironie gegen Gewalt
Nach den Lesungen und Diskussionen traf man sich auf den Korridoren, am Frühstückstisch, beim Stadtbummel durch die Strassen, die vor frisch renovierten Jugendstilfassaden südliches Flair ausatmeten. Viktor Jerofejew punktete im kleinen Kreis mit Anekdotischem aus seiner Familie und erzählte, wie er, um den eigenen Bruder vor der Lagerhaft zu retten, in die obersten Etagen des Kremls, zum damaligen Leiter von Putins Präsidialverwaltung, Surkow, vorstiess.
Das Bedürfnis war vorherrschend, sich diesseits und jenseits aller Checkpoints und Fronten aus erster Quelle ein Bild zu machen. John Ralston Saul erzählte aus seinen Jahren als Pen-Klub-Präsident, wie er das Gewaltmonopol der Diktatoren mit moralischer Integrität, Unerschrockenheit und Ironie aushebelte. Offenheit, Weite, Austausch, so die subkutane Botschaft, seien die wirksamste Waffe gegen Abschottung, Schweigen, Enge. Überall und jederzeit. Auch im nächsten Jahr, zur gleichen Zeit, am gleichen Ort, wenn sich in Odessa die Literaten der Welt wieder einmal versammeln.
Barbara Lehmann lebt in Berlin. 2015 ist ihr Roman «Eine Liebe in Zeiten des Krieges» im Langen-Müller-Verlag erschienen.