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Das Land der verpassten Möglichkeiten
Weissrussland zwischen Putin und Maidan
von Barbara Lehmann4.5.2015, 05:30 Uhr
Die Lage Weissrusslands im Kreuzungsbereich fremder Mächte war immer schon prekär. 1991 unabhängig geworden, sucht man Halt im Autoritarismus. Liberale Reformen sind nicht in Sicht.

Präsident Lukaschenko, hier 2006 im Fernsehen, balanciert zwischen den Extremen. (Bild: Davide Monteleone / VII)
Der Streik in den Markthallen von Witebsk – das ist Abwesenheit, Leere. Das sind Gänge ohne Waren, ohne Händler, mit weissen Rollladen vor den Verkaufsständen. Das sind ein paar Streikbrecher, die sich schämen, und die Festangestellten der staatseigenen Geschäfte, die trotz dem Streik der Gewerbetreibenden weiterhin ihre Produkte feilbieten.
Der Streik – das ist die Taktik der Partisanen: Wegducken. Nicht da sein.
Weissrussland im Schatten der Ukraine-Krise. Noch bevor die «Revolution der Würde» im Nachbarland in Krieg und Zerstörung umschlug, wurden hier die ukrainischen Massenproteste als Katastrophe wahrgenommen. Das kollektive weissrussische Bewusstsein verbindet mit Aufstand und Revolution keine Erfolge. Anpassung, Pragmatismus, der evolutionäre Weg der Reformen, verbunden mit dem leisen Gang durch die Institutionen, gilt als der bessere Weg, um voranzukommen.
Inna ist die Einzige, die Gesicht zeigt. Alles an der Sprecherin des Streiks ist schwarz oder weiss, auf Widerstand gebürstet und doch friedfertig: das hochgetürmte Haarnest mit ein paar Zöpfchen als Stacheln, die Sonnenbrille mit weissen Rändern und das selbstgeschneiderte Ensemble aus Bluse und Hosen. Die Änderungsschneiderin beklagt, dass einheitliche Bestimmungen in der Eurasischen Wirtschaftsunion fehlten, die da unlängst in Moskau von Präsident Lukaschenko und Putin so triumphal besiegelt wurde. Und nun drohten die hiesigen Bürokraten ihnen, den kleinen Gewerbetreibenden von Witebsk, mit vierfach höheren Steuern für die russischen Importgüter, was sie in den Ruin treiben würde. Aber, betont Inna im gleichen Atemzug, ihr Streik sei nicht politisch, auf Witebsk beschränkt und in Minsk angesichts der allgegenwärtigen Polizeigewalt sowieso undenkbar. «Inna, was fürchten Sie am meisten?» – «Dass die Angst vor dem Staat in Gleichgültigkeit, in Lethargie umschlägt.»
Stein gewordenes Utopia
Der Staat – das ist seit zwanzig Jahren der Präsident: Lukaschenko. Ihm übertrugen die Menschen nach dem Kollaps der Sowjetunion und einer kurzen Zwischenzeit von Chaos und Armut nahezu unbegrenzte Vollmachten, damit er das im Nachkriegs-Weissrussland sowjetisch Erreichte konservierte, die alten ökonomischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn nicht kappte und keine Experimente einer entfesselten Privatisierung stattfanden. Seine Gegner werfen ihm seit Jahren Wahlfälschungen und Inhaftierung der politischen Opposition vor. Westlichen Medien gilt er als letzter Diktator Europas. Wo liegt die Wahrheit?
300 Kilometer und sechs Bummelzug-Stunden in einem Waggon aus Sowjetzeiten selig weiter. Minsk empfängt seine Gäste mit einem neu erbauten Bahnhofspalast aus Chrom, Stahl und Leuchttafeltechnik. Die «Sonnenstadt», dieses in Stein und Marmor gegossene kommunistische Utopia, das nach der Zerstörung des alten Minsk durch Hitlers Truppen auch mithilfe deutscher Kriegsgefangener aus dem Boden gestampft wurde, macht ihrem Namen alle Ehre, so leuchtet sie. Es erglänzen die breiten Prospekte, die weiten Plätze, die alle auf die triumphalen neoklassizistischen Bauten, die Paläste der Staatsmacht, zulaufen. Selbst der Asphalt erglänzt dank den in die Unsichtbarkeit der frühen Morgenstunden verbannten Putzkolonnen der Ameisenmenschlein und Wassersprühwagen.
Die über die Strassen gespannten Spruchbänder, ein Relikt aus sowjetischen Zeiten, bilden die unglamouröse Variante der westlichen Reklame. Die staatlichen Läden, Apteka, Gum, Kulinaria, tragen stoisch die alte sowjetische Schrift auf den Fassaden und vermitteln die Botschaft, dass sie Einheimisches verkaufen, Grundnahrungsmittel, subventioniert und mausgrau, im Unterschied zu den Importwaren, deren Preise bei vergleichsweise niedrigen Löhnen und Renten inzwischen mitunter Westniveau übersteigen. Luxuskarossen schieben sich über die mehrspurigen Prospekte, aber auch manch hinfälliger Wolga hinterlässt Auspuffwolken. Vereinzelt, den Gemeinsinn nicht verletzend, gibt es in den Geschäften auf den zentralen Prospekten den Lockruf der globalen Marken. Das kapitalistische Unterbewusste der Stadt ist in eine unterirdische Einkaufszone verbannt sowie an die Peripherie ausgelagert worden. Dort schiessen auch mit Geldern russischer Investoren zwischen sowjetischen Plattenbauten gläserne Einkaufszentren, Bürohäuser und Luxusapartments empor, deren Quadratmeterpreise oftmals über dem Niveau westlicher Grossstädte liegen.
Die weissrussische Hauptstadt balanciert die Extreme – wie auch der Präsident des Landes, Lukaschenko. Dass er ein politisches Urtalent sei, gestehen ihm mittlerweile sogar seine Gegner zu. Dies bewies er in der Ukraine-Krise, als er geschickt zwischen den Fronten agierte: Einerseits unterstützte er die neue Führung der Ukraine, des wichtigsten Handelspartners; andererseits erkannte er sofort die russische Übernahme der Krim an. In Fernsehauftritten und in seiner Rhetorik zieht er zudem seit neuestem die nationale weissrussische Karte und wildert somit in einem Terrain, das zuvor die Opposition besetzte, die er bei den Kommunalwahlen im Frühjahr mit nur einem Prozent der Stimmen in die Marginalität verbannte. Passend zu dieser Schaukelpolitik positionierte Lukaschenko Minsk in der Ukraine-Krise als Stätte der politischen Vermittlung.
«Wir haben uns arrangiert», sagt Marina Statkewitsch. «Wir sind Geiseln, die unter dem Stockholm-Syndrom leiden.» Anfangs bei unserem Treffen in einem Minsker Café redet sie sehr leise. Immer wieder kämpft sie mit den Tränen, aber das sieht man zunächst nicht durch den Hut, der das Gesicht beschattet, und die Sonnenbrille. Die Sonnenbrille muss sie tragen, weil sie sich die Augen verdorben hat. Damals, nach dem 19. Dezember 2010, dem «Blutsonntag», als Tausende aus Protest gegen Wahlfälschungen auf die Strassen gingen und von Omon-Truppen niedergeknüppelt wurden. Hausdurchsuchungen, Verhaftungen, Folter folgten. Auch Mikalai, ihr Mann, der Prominenteste unter den acht Präsidentschaftskandidaten, wurde aus dem Verkehr gezogen. Der Westen ächtete das Regime mit Sanktionen.
Nach der Verhaftung ihres Mannes sass Marina Statkewitsch über zwei Monate lang stundenlang nachts am Computer, im abgedunkelten Raum, verborgen vor ihren Bewachern, und fahndete nach Dokumenten, die ihn entlasten könnten. Alles vergeblich. Für die Organisation von Massenaufruhr wurde er zu sechs Jahren Haft verurteilt, zunächst im Lager. Jetzt büsst er die restliche Zeit in einem Gefängnis mit strengem Regime ab. Im Vergleich dazu, sagt sie, seien die russischen Gefängnisse ein Sanatorium.
Strenges Regime, das heisst für ihren Mann: Alleinsein, Liegen in der Zelle, dem Betonsarg. Eine Stunde Ausgang am Tag, im Dachgeschoss, wo die Sonne nur durch Gitterstäbe hereinlugt. Ein Paket mit Lebensmitteln, die von ihm so rationiert werden, dass sie über Monate reichen, derart kostbar sind sie. Fünfzehn Minuten Anrufzeit im Monat, für alle. Ein Treffen im halben Jahr – für sie alleine.
«Es gibt ihn nicht», sagt sie über Lukaschenko. «Vergessen Sie ihn. Mir reicht, dass er in unserem Haus existiert.»
Um uns herum: paralleles Leben. Computer, Tablets, Smartphones. Alles ist westlich gestylt, das Mobiliar, die Mädchen, die Speisekarte, selbst die Salate mit Parmesan und Parmaschinken suchen Anschluss an westlichen Lifestyle. Das Apolitische der Fassade ist politisch. Sie, die Studenten und jungen Künstler, die sich hier versammeln, ganz auf sich konzentriert und ihre Ideen, Projekte, haben ihre eigenen Websites und Internet-Zeitschriften. Viele fiebern mit den Freunden und Verwandten in der Ukraine mit, haben die Proteste auf dem Maidan in Kiew begleitet. Der Westen – das ist für sie vielleicht nur eine Metapher dafür, dass es woanders besser, gerechter, humaner zugehe. Gleichzeitig basteln sie sich auf der Suche nach Halt, nach Wurzeln eine weissrussische Identität zusammen.
Nichtklassische Formen des Protests
Sie glaube, sagt Marina Statkewitsch, inzwischen an nichtklassische Formen des Protestes: Wohltätigkeitsaktionen, Kulturprojekte wie die Wiederbelebung und Pflege der weissrussischen Sprache, an soziale Aktivitäten. Sie sei keine Anhängerin eines besonderen Weges. Nur allgemeine menschliche Werte wolle sie haben für diese Gesellschaft, dieses Land im Zentrum Europas, an der Wegkreuzung der Zivilisationen und Kriege, die über diese Landschaft hinweggegangen seien. Ein Land, das immer nur Teilstück, Anhängsel oder Beute war für die Grösseren, Mächtigeren, die es sich einverleibten. Man war nie eigenständig, souverän, immer nur «mit» – den Litauern, den Polen, den Russen. «Eines Morgens wachten wir in unserem eigenen Staat auf und staunten. Wir müssen uns immer noch daran gewöhnen.»
«Ihr Mann hat sich geweigert, ein Gnadengesuch zu unterschreiben. Warum?» – «Er hat es als zu erniedrigend empfunden.» – «Wann kommt er frei?» – «Am 19. 12. 2016!»
Sie nimmt die Brille, den schwarzen Hut ab und fährt sich durch die erstaunlich kurzen Haare. Auf einmal sitzt keine Dame vor mir, sondern ein spitzbübisches junges Mädchen. «Was ist das für Sie, Freiheit?» – «Das Recht, man selbst zu sein.»
Die abstrakte «Freiheit», die da am anderen Ufer winkt, wird von der konkret begründeten Furcht in Schach gehalten, dass das in jahrelanger Aufbauarbeit mühsam Erreichte im Nu wieder zunichtegemacht werden könnte. Die Furcht vor Veränderungen ist historisch begründet. Weissrussland, schreibt der Philosoph Valeri Akudowitsch, sei das Land der permanenten Apokalypse. Unter der deutschen Besatzung liess jeder dritte Weissrusse sein Leben, jüdisches Leben wurde ausgemerzt, Wirtschaft und Kultur brachen für Jahre ein. Neben der Katastrophe des Zweiten Weltkrieges ist es vor allem der Fallout von Tschernobyl gewesen, der das Land im Kern erschütterte. Ein Prozent des weissrussischen Territoriums ist vom Fallout betroffen, eine Fläche, die zehnmal so gross wie Minsk ist. Vor allem die Region von Gomel hat unter den Folgen zu leiden.
Es geht ostwärts, Richtung Ukraine. Die Fahrt im PKW von Mogiljow in die verstrahlte Zone erfolgt auf jener alten Handelsroute, die einst von Petersburg nach Odessa führte.
An der Peripherie von Gomel rauchen die weiss-roten Schlote eines ölverarbeitenden Werkes; die Pipeline «Druschba» befördert russisches Öl, auch nach Deutschland. Gomel hat ein grosses Mähdrescherwerk und mittelgrosse Fabriken, die Möbel, Glas und klassische Männeranzüge herstellen. Die Mehrzahl der Betriebe in der Freihandelszone um Gomel sind, wie die weissrussische Industrie im Allgemeinen, weiterhin in staatlicher Hand, technisch veraltet, leiden unter niedriger Arbeitsproduktivität und haben mit nur eingeschränkt konkurrenzfähigen Produkten vor allem im eurasischen Raum ihren Absatzmarkt. Dafür herrscht Vollbeschäftigung. Gomel hat, wie alle weissrussischen Städte, die Karl-Marx-, Kirow-, Engels- und Lenin-Strasse, ein Lenin-Denkmal, ein Kasino, Trolleybusse, den Palast der Gewerkschaften und einen Fernsehturm, der spätsowjetisch emporragt. Gomel hat die Osowo-Donskoj-Bank, die noch unter dem Zaren eröffnet wurde, sowie fünf Universitäten, drei Theater, einen Zirkus, vier grosse Museen und viele kleine. Es hat den Zarkewitsch- Park mit alten sowjetischen Karussellen, aus denen die Kinder wie Blumen erwachsen, und neuen mit LKW-Trucks; es hat Kioske, die Zuckerwatte und das köstliche sowjetische Sahneeis Plombir anbieten. Es hat in diesem Park Jogger, Biker, elfenhafte Mädchen mit durchsichtigen Röcken und kinderreiche Familien, die die Strenge der Parkregeln (kein Alkohol, kein Fahrrad, keine Hunde!) selbstverständlich unterlaufen.
Tschechowsche Provinzstadt
Gomel hat den Charme einer Tschechowschen Provinzstadt und viel Überflüssiges, darunter auch Arbeitskräfte, Menschen, die man im Westen längst wegrationiert hätte. Gomel hat eine Normalität, an der nichts normal ist.
Gomel hat eine Ärztin, Spezialistin für Früherkennung, die jung war, als der Reaktor von Tschernobyl explodierte und den Bezirk um Gomel herum verseuchte. Als sie begriffen hatte, was der unsichtbare Tod für die Region bedeutete, ging sie auf den Markt, erstand einen Korb Himbeeren und ass sie alle auf. Danach ging es ihr besser. Tausende hat sie in den vergangenen Jahrzehnten auf Kehlkopfkrebs untersucht, die Bevölkerung ganzer Dörfer aus dem Umkreis, die umgesiedelt wurde und jetzt allmählich zurückkommt. Sie selber ist nie krank geworden.
Sie träumt von tiefgreifenden strukturellen Reformen für diese vergessene, verseuchte Region an der Grenze und ist sich sicher, dass auf den weiten Agrarflächen, Wiesen und Wäldern um Gomel herum eine kleine Schweiz entstehen könnte. «Ökologischer Anbau auf der verstrahlten Erde?» – «Alles möglich», sagt sie.
Wald, ein Fluss, Sümpfe. Hin und wieder ein Baumstamm, der sich über den Weg legt. Ab und an: das von Grün überwucherte Skelett eines Hauses. Die Sperrzone lebt, trotz den Schildern, die das Betreten verbieten. Die Menschen, die unseren Weg kreuzen, haben gute Gründe parat , warum sie hier sind: Russen im Schiguli wollen ihre Toten auf einem verlassenen Friedhof besuchen, ein Förster überwacht Baumsetzlinge. Zwei Angler? Eine Alte befördert auf dem Rücksitz ihres Fahrrads einen Sack mit Pilzen, die ungeachtet ihrer Proteste von unserem Begleiter vom Amt für Strahlenschutz ausgeschüttet werden.
Was wäre wenn, träumt die Ärztin weiter, während sie der Alten auf dem Fahrrad nachsieht, die im Dickicht verschwindet. Was wäre, wenn hier ein neuer Raum entstünde. Ein Raum, in dem es keine Blöcke mehr gibt und keine Frontziehung wie in der Zeit des Kalten Krieges. Ein Raum ohne politische Rhetorik, die Diktatur und Demokratie, Sozialismus und Kapitalismus gegeneinander ausspielt. Ein Raum, in dem auch die Schranken des Entweder-oder fallen, die Alternativlosigkeit, mit der Dritte, Mächtigere dieses Land bisher in die Enge trieben.
«Weissrussland», sagt die Ärztin, «das ist das Land der verpassten Möglichkeiten.»
Wir fahren weiter.
Barbara Lehmann lebt als freie Autorin mit Schwerpunkt Osteuropa in Berlin. Soeben ist von ihr bei Langen Müller der Tschetschenien-Roman «Eine Liebe in Zeiten des Krieges» erschienen.