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Das Silicon Valley von Minsk
Weißrussland wird im Westen als abgewirtschaftete Diktatur wahrgenommen. Zu Besuch in einem Hightech-Park
Von Barbara Lehmann
27. November 2014 DIE ZEIT Nr. 47/2014, 13. November 2014
Es waren seine Landsleute, die jungen Programmierer aus dem Silicon Valley, die Waleri Zepkalo die Idee zu einem weißrussischen Hightech-Park eingaben. Sie besuchten zwei Vorträge, die er 1998 und 1999 als weißrussischer Botschafter am North California Foreign Policy Council hielt, einem Thinktank zur Außenpolitik, und klagten darüber, dass sie die gemeinsame Heimat verlassen mussten, weil sie dort keine Perspektiven gesehen hätten. Die nächste Generation, das gelobte Zepkalo sich damals, solle nicht in die USA auswandern müssen. Er wollte ihr eine Chance in Weißrussland geben.
Rund 15 Jahre später empfängt der mittlerweile 49-Jährige in seinem Büro. Er weist einen Mitarbeiter an, die Kassette für einen Werbefilm einzulegen. Nebenher telefoniert er auf seinem iPhone in akzentfreiem Englisch, kurz darauf bestreitet er ein kurzes Gespräch auf Finnisch. Dann lässt sich der Direktor des Hightech-Parks, der noch immer den Rang eines Botschafters innehat, in ein schwarzes Ledersofa fallen und kreuzt die Beine. Auf einem Monitor, der fast die ganze Wand einnimmt, rauschen die Grafiken und Zahlen des Erfolges vorbei: 2006 wurde der Hightech-Park gegründet, mittlerweile sind es 139 Firmen und 18.000 Mitarbeiter. Die Riesen der IT-Branche, darunter auch Google, vergeben Aufträge an sie. Zu den Stammkunden zählen aber auch deutsche Unternehmen wie Bosch, Siemens und die Deutsche Bank. Sie kaufen vor allem Software und Kommunikationstechnik ein.
Im Westen wird Weißrussland als ein aus der Zeit gefallenes Territorium am Rande Europas wahrgenommen: wirtschaftlich rückständig, an der Spitze Alexander Lukaschenko, der „letzte Diktator Europas“, wie ihn westliche Medien oft betiteln. In dieses Bild des Landes scheinen der weltgewandte, vielsprachige Zepkalo und sein Hightech-Park nicht zu passen. Was also erzählen sie über Weißrussland und seine Wirtschaft?
Man kann dieses Land nicht ohne seine Geschichte verstehen. Zepkalo schaut aus dem Fenster. Unten, auf den mehrspurigen Straßen, entfliehen die Fahrzeuge Minsk, dem Gigantismus seiner Plätze und neoklassizistischen Stalin-Paläste, die nach der Zerstörung durch Hitlers Truppen auch mithilfe deutscher Kriegsgefangener erbaut wurden, welche den Sieg des Kommunismus über den Faschismus in Stein gossen. Minsk, die Sonnenstadt, ist auch eine Stadt des Todes: Obelisken erinnern überall an den Widerstand des Volkes, daran, dass unter der deutschen Besatzung jeder dritte Weißrusse sein Leben ließ, jüdisches Leben ausgemerzt wurde, Wirtschaft und Kultur für Jahre einbrachen.
In der Sowjetzeit erfolgte der Wiederaufbau der Städte und der Wirtschaft, der aus dem traditionellen Agrarland die Montagehalle der Sowjetunion, ein Zentrum der Schwerindustrie, machte. Als die Sowjetunion kollabierte, wachten die Menschen plötzlich in ihrem eigenen Staat auf. Nach einer Zwischenzeit von Chaos und Armut, die den Versprechungen von neuen politischen und wirtschaftlichen Freiheiten Hohn sprachen, suchten sie Zuflucht bei dem, was sie kannten: der starken Hand des Staates. Lukaschenko. Ihm übertrugen sie fast unbegrenzte Vollmachten, er garantierte, dass all das unter der Sowjetunion Erreichte konserviert wurde, die alten ökonomischen Beziehungen zu den östlichen Nachbarn nicht gekappt wurden und keine Experimente einer entfesselten Privatisierung stattfanden.
Seit zwanzig Jahren, seitdem Lukaschenko an der Macht ist, werfen ihm seine Gegner Wahlfälschungen vor, blutige Unterdrückung und Inhaftierung der politischen Opposition. Sanktionen des Westens sollen den Druck erhöhen, das Land zu reformieren. Dass, ungeachtet dieser Sanktionen, Zepkalo und seine Mitarbeiter in den vergangenen acht Jahren erreicht haben, dass europäische und amerikanische Firmen ihr Geschäft mit Weißrussland ausbauten, ist erstaunlich. 90 Prozent der Produkte und Dienstleistungen des Hightech-Parks werden exportiert, davon wiederum gehen 45 Prozent in die EU und 40 Prozent in die USA. 2013 betrug der Umsatz 525 Millionen Dollar. Man erfülle nicht nur Aufträge, sagt Zepkalo, sondern entwickele auch eigene Produkte: Viber, die Skype-Version fürs Smartphone, wurde hier erfunden, Handy-Apps wie All in Fitness, das Computerspiel World of Tanks. Und weiter? „Nichts weiter“, sagt Zepkalo, „das ist viel für ein kleines Land wie Weißrussland.“
Und welchen Einfluss nimmt der Staat? 49 Prozent der dem Hightech-Park angegliederten Firmen sind in weißrussischem Besitz, die andere Hälfte ist in westlichem. Der Staat, sagt Zepkalo, gewähre Steuervorteile für die Mitarbeiter und die Unternehmen. Zudem ermögliche er die Ausbildung der mathematisch Kreativen, und zwar von klein auf. Nach dem Vorbild der Stanford-Universität erfolge früh die Vernetzung von Theorie und Praxis. 63 Laboratorien seien eng mit dem Hightech-Park verbunden und an weißrussischen Unis angegliedert, untypischerweise auch an linguistischen oder Wirtschaftsfakultäten. Eine IT-Uni sei in Planung.
Der Staat profitiere vom Prestigegewinn im Westen, von den Kontakten, dem Exportgeschäft, der Schaffung von Arbeitsplätzen, kurz gesagt: von den neu entstandenen weißrussisch-westlichen Strukturen. Und davon, dass der Hightech-Park im Gegensatz zu vielen anderen Unternehmen schwarze Zahlen schreibe und jene Subventionen nicht benötige, welche den auf wackligen Beinen stehenden Staatsbetrieben dabei helfen, den Stürmen der Globalisierung standzuhalten.
Sind alle diese Nerds Partisanen?
Die Subventionen sind Fluch und Segen der weißrussischen Gesellschaft. Lukaschenkos Macht gründet auf der aus sozialistischen Zeiten hergeleiteten Überzeugung, dass die Politik für das Allgemeinwohl zu sorgen habe, die Profit-Interessen Einzelner zurückstehen müssten. Seine Stammwähler – die Landbevölkerung, die Alten, die weniger Qualifizierten und die weniger Leistungsfähigen – halten ihm das zugute. Zwar sind die meisten Betriebe technisch veraltet und mit einer niedrigen Arbeitsproduktivität nur eingeschränkt konkurrenzfähig auf dem Weltmarkt. 70 Prozent der Wirtschaft, all die Stahlkombinate, Raffinerien und Traktorenwerke, sind weiterhin in staatlicher Hand. Dafür herrscht Vollbeschäftigung.
Doch der paternalistische Anspruch wird zunehmend ausgehöhlt. Zwar werden die Grundnahrungsmittel weiterhin subventioniert, aber die Preise für andere Lebensmittel haben westliches Niveau erreicht, bei im Vergleich zum Westen viel niedrigeren Durchschnittslöhnen. Im Gesundheitswesen werden immer mehr Zusatzleistungen kostenpflichtig angeboten, für weite Teile der Ausbildung muss man inzwischen selbst aufkommen, und auch die Stipendien sind an Auflagen und Rückzahlung gekoppelt.
Die Ereignisse im Nachbarland Ukraine, dem nach Russland zweitwichtigsten Handelspartner, seien eine zusätzliche Bedrohung für die weißrussische Wirtschaft, sagt Zepkalo. Die Sanktionen gegen Russland und der Kursverfall des Rubels träfen auch das rohstoffarme Weißrussland, das auf billiges russisches Gas und Öl und den Export von Produkten der chemischen Industrie und des Maschinenbaus nach Russland angewiesen sei und dessen Waren im GUS-Raum nun teurer würden.
Die allzu große Abhängigkeit von Russland veranlasst die weißrussische Führung dazu, sich wieder mehr dem Westen zuzuwenden. In den vergangenen Monaten sandte die Regierung Lukaschenko zarte Signale in Richtung Europa aus, etwa durch die Freilassung politischer Oppositioneller. Auch der Westen zeigt Entgegenkommen und zollt Lukaschenko Anerkennung dafür, dass er in der Ukrainekrise geschickt zwischen den Fronten lavierte und sofort die neue Regierung der Ukraine anerkannte. Dennoch bleibt die Sorge, das mühsam Erreichte könne wieder verschwinden. Zepkalo springt von seinem Ledersofa auf. „Können Sie sich vorstellen, wie es hier noch vor ein paar Jahren aussah?“ Er führt auf einen Gang hinter seinem Büro. An der Wand hängen Fotos des Gebäudes, so wie er es 2006 von der Akademie der Wissenschaften übernommen hat. Es zeigt sein ausgeschlachtetes Inneres, Röhren, Steinbruch.
Ist der gen Westen ausgerichtete Hightech-Park in diesem Land der verarbeitenden Industrie, das mit Russland so eng verpartnert ist, nicht künstlich implantiert, eine Insel? Nein, sagt Zepkalo. Aus dem weißrussischen Umfeld schöpften sie Ideen, auch aus der Kriegszeit. Nur hier könne man beispielsweise auf die Idee kommen, einen sowjetischen Panzer zum Helden eines Computerspiels zu machen.
Zu Anfang wollte World of Tanks keiner haben, die westlichen Partner verstanden das Konzept nicht. Die Firma Wargaming stand kurz vor dem Bankrott. Inzwischen hat sie weltweit 16 Niederlassungen und 180 Millionen Nutzer. Jeder Spieler wählt aus Hunderten von historischen Panzern ein Gefährt aus und steuert es übers Gelände, durch Städte und Wüsten. Fast alle Preise, die die Computerspielindustrie zu vergeben hat, hat World of Tanks gewonnen, unter anderem den Golden Joystick, eine Art Oscar der IT-Branche.
Das neu erbaute Gebäude der Firma – ein Palast aus Chrom und Stahl – befindet sich unweit des Hightech-Parks. Manche Programmierer tragen T-Shirts mit Panzer-Aufdrucken. Einige telefonieren auf Englisch. Der ein oder andere hat das Spiel auf dem Computer eingeschaltet und spielt es zwischendurch, zur Entspannung.
Die Weißrussen, sagt der Philosoph Valeri Akudowitsch, seien anpassungsfähig und pragmatisch. Gleichzeitig hätten sie die Mentalität von Partisanen. „Wir sind nicht da“ – nach diesem Prinzip erfolge der Rückzug aus dem öffentlichen Raum ins Private. Im autoritären System Lukaschenkos, das jegliche oppositionelle Regung unterdrücke, führten viele ein paralleles Leben, unauffällig, ohne überflüssige Bewegung.
Sind alle diese Nerds also Partisanen, im Dienste einer Technik, die zivilgesellschaftliches und politisches Engagement lahmlegt, Energie ins Unverbindliche ablenkt? Haben sie, Großverdiener alle, für weißrussische Verhältnisse zumindest, sich nicht bereits aus diesem Land verabschiedet, das in der Rangliste der Pressefreiheit laut Reporter ohne Grenzen auf Platz 157 steht?
Nein, betont Zepkalo: „Wir sind froh, reisen zu können, aber auch froh darüber, unserem Land nicht für immer den Rücken zu kehren.“ Zepkalo, der Patriot, der Diplomat, der den Gang durch die Institutionen antrat, ist überzeugt davon, dass diese Jungen, Begabten dazu beitragen werden, dass sein Land schon bald nicht mehr weit hinter anderen europäischen Nationen wie Deutschland oder England zurückstehen werde.