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Tod in Sotschi

Nichts wird in der Olympiastadt so hartnäckig verleugnet wie der russische Terror vor 150 Jahren, als die Armee des Zaren das Volk der Tscherkessen von hier vertrieb.

Von Barbara Lehmann
9. Januar 2014, 7:00 Uhr / Editiert am 16. Januar 2014, 1:40 Uhr DIE ZEIT Nr. 3/2014

Einstmals, vor mehreren Tausend Jahren, durchschnitten sie in wendigen Booten pfeilschnell das Schwarze Meer, zum Schrecken der Kauffahrer und Bewohner der Küstenorte. Sie züchteten in den kaukasischen Bergen und in den vorgelagerten Steppen grandiose Pferde, die hochbegehrt waren bei Krimtataren, Türken und Russen. Sie entwickelten Techniken des Acker-und Gartenbaus, wovon bis heute die Obstbaumwälder entlang der Schwarzmeerküste zeugen. Sie lebten einfach, in strohgedeckten Lehmhütten, in freien Verbänden, unabhängig, niemandem unterworfen, untertan nicht einmal den eigenen Fürsten, denen mehr Pflichten als Rechte aus ihrem Stand erwuchsen. Adyge habse, ein Sittenkodex, mündlich weitergetragen von Generation zu Generation, regelte ihr Zusammenleben.

Sie hatten keine Schriftsprache. Über ihr Leben berichteten fremde Chronisten. Die gaben ihnen, den westkaukasischen Stämmen, darunter die Kabardiner, Schapsugen, Ubychen, den Namen Tscherkessen. Zum ersten Mal fiel der Begriff im 13. Jahrhundert. Sie selbst nannten sich Adygejer.

Ihr Unglück war, dass ihre Heimat an der Schnittstelle zweier Welten lag: Orient und Okzident. Hier kreuzten sich die Interessen von Völkern und Reichen, für die der westliche Kaukasus je nach Blickwinkel die Brücke nach Asien oder nach Europa bildete. Der Kaukasus war einerseits eine Festung, die Mittelasien abschirmte, ein Schutz auch für zwei Meere, das Schwarze und das Kaspische, aber zugleich Ausgangspunkt und Durchgangsstation für Eroberungsfeldzüge. Es ging, damals wie heute, um die Aneignung neuer Lebensräume, Herrschaftszonen, Absatzmärkte.

Es kamen die Griechen, die Römer, die Goten und die Hunnen. Es kamen die Byzantiner, die Heere des Kiewer Rus. Im multiethnischen Osmanischen Reich machten tscherkessische Fürsten Karriere, einer wurde gar Sultan, und Zar Iwan der Schreckliche ehelichte am 21. August 1561 in Moskaus Mariä-Verkündigungs-Kathedrale im Kreml eine tscherkessische Prinzessin, die spätere Zarin Maria.

Das imperiale, imperialistische Russland – im Laufe des 19. Jahrhunderts sollte es den Tscherkessen zum Verhängnis werden. Der Krieg war von beispielloser Unerbittlichkeit und Härte, auf beiden Seiten. Indem die russischen Truppen immer tiefer in die Berge vordrangen und neue Festungen in der Ebene bauten, sperrten sie die Tscherkessen auf immer engerem Raum ein. Widerspenstige Siedlungen wurden niedergebrannt, Viehherden weggetrieben oder gleich abgestochen, ganze Gebiete „ethnisch gesäubert“.

Und doch konnte die Eroberung des Kaukasus noch bis 1859 verhindert werden, erst da nahmen die Russen den Norden ein, Tschetschenien und Dagestan. Nur der Westkaukasus und die Tscherkessen blieben unbesiegt. 1861 ein neuer Anlauf. Die russische Regierung stellte die Menschen vor die Alternative: Entweder sie übersiedelten an festgelegte Orte in der Ebene und lebten dort unter russischer Verwaltung, oder sie verließen die Heimat und gingen in die Türkei.

Das Kubaner Kosakenheer griff erneut an. Die tscherkessischen Stämme kämpften um ihr Überleben. Im Tal von Sotschi versammelten sich Angehörige der Abadzechen, Schapsugen und Ubychen und wählten eine Art Parlament: die Medschlis. Sie bestimmten auch eine fünfzehnköpfige Regierung. Gleichzeitig leiteten sie erste politische und administrative Reformen für ihren neu gebildeten Staat ein. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch, den Untergang abzuwenden. Zweimal im September 1861, auf der Taman-Halbinsel und am Oberlauf des Flüsschens Fars, traf eine tscherkessische Delegation Zar Alexander II. Beim zweiten Treffen überreichte sie dem Herrscher ein Memorandum der „Union der tscherkessischen Stämme“. Sie bat darum, dass ihr Volk in der Heimat bleiben und dort nach seiner Art und Weise leben darf. Dafür wollten sie Russlands Oberhoheit anerkennen. Auch entsandte die neu ernannte tscherkessische Regierung Botschafter nach Konstantinopel, Paris und London und bat um Schutz. Vergebens.

Die Truppen des Zaren rückten weiter vor, unaufhaltsam. Im Gebiet von Sotschi verschanzten sich die letzten Widerständigen. Fünf Tage lang, vom 7. bis zum 11. Mai 1864, hielten sie stand. Dann spien die russischen Kanonen Eisen und Feuer. Keiner der Verteidiger überlebte.

Am 21. Mai 1864 ließ Großfürst Michail Romanow, der Bruder des Zaren, seine Truppen in Kbaade, dem heutigen Krasnaja Poljana, zu einer Siegesparade antreten. Es folgte von Sotschi aus die Deportation des gesamten Volkes: ein Exodus über das Schwarze Meer, bei dem Hunderttausende starben. Seit dieser Zeit, so schreibt der Journalist Manfred Quiring in seinem gerade erschienenen Buch Der vergessene Völkermord. Sotschi und die Tragödie der Tscherkessen (Ch. Links Verlag, 224 S., 16,90 €), weigern sich die Tscherkessen, Fisch aus dem Schwarzen Meer zu essen, in dem so viele ihrer Ahnen starben.

AUSSTELLUNG
„Tscherkessen – Vom Kaukasus in alle Welt verweht. Ein legendäres Volk neu entdecken“ lautet der Titel einer Ausstellung zum Thema, die bis zum 25. Mai im Museum für Völkerkunde in Hamburg zu sehen ist (Rothenbaumchaussee 64, Tel. 040/428 87 90)

Heute sind die Tscherkessen über die Welt verstreut. Wie viele es sind, kann niemand sagen, die Schätzungen reichen von drei bis sieben Millionen. Nur noch 700.000 von ihnen leben in Russland, verteilt auf drei Republiken: Kabardino-Balkarien, Karatschajewo-Tscherkessien, Adygeja. Es ist ein Volk, das sich selbst im Museum oder im Internet besuchen muss, um die eigenen Wurzeln zu spüren. Ein Volk, das verschwindet, weil auch seine Sprache ausstirbt.

Keine Gedenktafel erinnert an die letzte Schlacht des kaukasischen Krieges

Krasnaja Poljana (wörtlich: das „schöne“ oder das „rote Feld“, je nach historischem Kenntnisstand und Perspektive): Grandhotels, Bob- und Rodelbahnen, Skilifte, Sprungschanzen. Dort, wo die Tscherkessen vor 150 Jahren ihren letzten Kampf ausfochten, ist nun innerhalb kürzester Zeit ein exklusiver Wintersportort emporgewachsen. Nach dem Ende der Olympiade, so erträumen es sich die Erbauer, soll sich das einst verschlafene Bergnest in ein neues St. Moritz verwandeln. Kein Museum, keine einzige Gedenktafel erinnert hier an die letzte Schlacht des kaukasischen Krieges und die Ureinwohner, die Ubychen. Einzig ein Kriegerdenkmal zeugt vom Großen Vaterländischen Krieg und vom Sieg der sowjetischen Armee über Hitlers Wehrmacht. Auf der offiziellen Website von Sotschi selber (ubychisch: Schetsch), von jener Stadt also, wo einst das tscherkessische Parlament tagte (weshalb die Tscherkessen Sotschi als ihre letzte Hauptstadt betrachten), ist keine Erinnerung an den Völkermord zu finden. In Sotschi leben auch keine Ubychen mehr.

In den letzten vier Jahren erinnerte Wladimir Putin, der noch als Ministerpräsident den zweiten Tschetschenienfeldzug einleitete und in der Gegend von Sotschi eine Residenz hat, in seinen Reden zu Olympia mit keinem Wort an die Tscherkessen. Als Ureinwohner der Region nannte er mal die Griechen, mal die Armenier, mal die Kosaken.

Damals und heute: auf der einen Seite die russische Großmacht. Milliarden, auch aus dem Westen, Spezialisten von FSB wie CIA, ganze Armeen von Bewachern, die auf dem Land, im Meer und in den Lüften während der Winterspiele die kleine Stadt abschirmen werden, um sie zur Festung des Sports zu machen. Auf der anderen Seite, irgendwo in den Wäldern, präsent nur in verwackelten, via Internet verbreiteten Videos: Doku Umarow und seine versprengten jungen kaukasischen Kämpfer. Der Tschetschene, dessen 74-jähriger Vater 2005 entführt und tot aufgefunden wurde, nachdem sich der Sohn den russischen Sicherheitskräften und ihren tschetschenischen Helfershelfern nicht hatte stellen wollen, ist der geistige und politische Führer des kaukasischen Emirats. Unter der Flagge des Dschihads vereint er die Kinder der kaukasischen Kriege und der Diaspora. Jenen, die Olympia „auf den Knochen unserer Ahnen“ ausrichten, droht Umarow mit Attentaten. Die Anschläge in Wolgograd geben einen Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte. Putin und Umarow, die beiden Unversöhnlichen, verstrickt in ihren persönlichen Zweikampf, sind sich ähnlicher, als sie es wahrhaben wollen. Olympia, so ist zu befürchten, könnte die Arena werden, in der sie ihr Duell austragen und vollenden. Die olympischen Athleten würden dabei zu Statisten werden.

Dazwischen: die Tscherkessen, damals wie heute zerstritten. Es gibt eine Fraktion pro Sotschi, vor allem in Russland, wo man gezwungenermaßen mit den Machthabern kooperieren muss. Hier zeigt man sich diplomatisch in der Hoffnung, dass Olympia an das eigene Volk erinnert. Doch weder vonseiten der russischen Regierung noch des IOC hat man die Gesuche wahrgenommen. Und es gibt eine Fraktion NoSotschi, die sich vor allem in der Diaspora befindet. Ihre Aktivisten fordern die Anerkennung des Völkermords als Genozid und lehnen die Winterspiele kategorisch ab.

Der Countdown läuft. Und die ganze Welt schaut zu.