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Das System Lukaschenko
Gespräch mit der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch, der wichtigsten intellektuellen Stimme Weissrusslands
von Interview: Barbara Lehmann31.1.2011
Ganz Europa ist demokratisch. Ganz Europa? Nein, ein diktatorisch geführter Staat im Osten schert aus – Weissrussland. Alexander Lukaschenko klammert sich an die Macht, indem er das Volk besticht und die Opposition knebelt. Die Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch weiss, warum seine Rechnung aufgeht.

Eine Kundgebung der Opposition in Minsk wird im Dezember 2010 niedergeknüppelt. (Bild: Imago)
Frau Alexijewitsch, Sie haben erst nach langem Zögern in dieses Gespräch eingewilligt. Warum?
Die weissrussischen Oppositionellen, die am 19. Dezember nach den Wahlen gegen Lukaschenko demonstriert haben, sitzen nach wie vor im Gefängnis. In den ersten Tagen wollten wir keine Kritik üben. Doch jetzt ist klar: Wir müssen die Fehler analysieren. Das ist eine sehr ernste Niederlage.
Was haben Sie an diesem «Blutsonntag» gemacht?
Wie alle habe ich abends versucht, zum Platz der Unabhängigkeit zu kommen. Es war eisig kalt, minus 15 Grad. Die Gruppe, mit der ich unterwegs war, wurde aufgehalten. Ich hätte dort etwa eine Stunde lang stehen müssen, doch das erlaubt meine Gesundheit nicht. Ich bin dann nach Hause gegangen. Alles weitere habe ich später aus den Erzählungen der Beteiligten erfahren: Die Menge war verunsichert. Die Opposition hatte die Menschen aus Protest gegen Wahlfälschungen auf die Strasse gerufen, doch dann wusste sie nicht, was sie mit dieser Masse anstellen sollte. Andrei Nekljajew, einer der Präsidentschaftskandidaten, war von Lukaschenkos Milizen bereits niedergeknüppelt worden. Die Leute wandten sich an einen anderen Kandidaten und schrien: «Sannikow, was sollen wir tun?» Sie gingen über die zentrale Allee bis zum Haus der Regierung. Und dort wurden sie von Lukaschenkos Sicherheitskräften erwartet.
War also vorauszusehen, dass Lukaschenko mit allen Mitteln seine Macht verteidigen wird?
Ja. Nur dass es so blutig geschehen würde, hat niemand ahnen können. Lukaschenko hat sicher nicht erwartet, dass so viele Menschen auf die Strasse gehen würden. Aber er war darauf vorbereitet. Ich wohne im Zentrum. Tagsüber habe ich gesehen, wie sich die umliegenden Höfe mit Truppen, Milizen und Gerätschaften füllten. Lukaschenko hat also vorgesorgt. Die Opposition war naiv.
Welches Programm hatte die Opposition?
Keines. Die Opposition hat ihr Programm auf der Kritik an Lukaschenko aufgebaut. Lukaschenkos Programm war besser. Es war klarer, ausgereifter. Er hatte dafür ja auch Zeit und Personal. Der Opposition fehlte es an starken Persönlichkeiten. Stellen Sie sich vor: Da sehen Sie plötzlich neun Bewerber um die Präsidentschaft. Sie wissen nichts über sie. Nein, die haben als Menschen keinen Eindruck hinterlassen. So ein kräftiger, gesunder Muschik wie Lukaschenko dagegen gefällt eben den weissrussischen Frauen und der Nomenklatura! Wir haben andere Orientierungspunkte. Was für eine Zivilgesellschaft eine Katastrophe wäre, das ist für die Menschen bei uns normal.
Ist die Opposition zu sehr vom Volk entfernt?
Natürlich. Ich war bei einem Wahlkampfauftritt von Andrei Sannikow, in einer grossen Stadt mit einer halben Million Einwohnern, da sind gerade mal 200 Leute gekommen. Sicher, überall findet man 200 intelligente Menschen. Aber das ist nicht das Volk. Nehmen Sie Polen: Dort gab es die Solidarnosc. Oder die Ukraine: Auf dem Majdan herrschte eine stark antirussische, antikommunistische Stimmung. Das waren mächtige Strömungen. So ergreift man die Macht.
Die Opposition behauptet aber, in den Wahlen gesiegt zu haben und dafür Beweise bieten zu können.
Ich weiss nicht, woher sie ihre Überzeugung nimmt. Ich bin vor der Wahl viel herumgereist und habe gesehen, dass Lukaschenko siegen wird. Er wird von einem Grossteil der Bevölkerung unterstützt, nicht nur auf dem Land, auch in den Städten. 80 Prozent der Wählerstimmen hat er nicht bekommen, aber 50 bis 60 Prozent schon.
In westlichen Augen macht Lukaschenko einen erratischen Eindruck.
Für mich ist er ein Psychopath, und all seine Handlungen sind pathologisch. Aber es gibt zwei Wahrheiten: die Wahrheit von uns Intellektuellen – wir haben zukunftsweisende Ideen und wünschen uns ein unabhängiges, zivilisiertes Weissrussland. Und daneben eine zweite, einfachere Wahrheit: jene der Mehrheit. Für die Menschen auf dem Dorf bedeutet die Freiheit Wurst. Lukaschenko versteht sie. Er ist ein politisches Tier. Er macht, was sie wollen. Weissrussland hat seine eigenen Koordinaten.
Worin besteht Lukaschenkos Modell?
Lukaschenko hat den Sozialismus konserviert, und zwar mit russischen Geldern. Aber wir haben keine Abramowitschs. Wir haben auch reiche Leute – aber sie bewegen sich entweder im Dunstkreis von Lukaschenko, oder sie haben sich ihr Geld hart verdient. Lukaschenko hat sie mit hohen Steuern belastet. Auch die Banken müssen sehr viel Steuern zahlen. Lukaschenko hat einen sozialen Vertrag mit der Bevölkerung abgeschlossen. Er ist ein Diktator, der sich am kleinen Mann orientiert. Und bisher hat er diesen Vertrag erfüllt: Er baut Häuser in den Dörfern und trägt dazu bei, dass die Kinder lernen können. Das gibt es nicht in Russland. Bei uns funktionieren die Kolchosen. Für unsere Milch oder den Käse stehen die Leute in Moskau Schlange. Es gibt eine Ordnung. Allerdings gibt es keine Freiheit. Als Lukaschenko an die Macht kam, herrschte Chaos. Man kann den Leuten nicht einfach weismachen, dass er ein Versager ist. Die Menschen sehen sich um und erkennen: Dies ist ein völlig anderes Land. Überall werden Häuser und Supermärkte hochgezogen, viele Wohnungen haben europäischen Standard. Die meisten besitzen ein Auto. Viele machen Ferien im Ausland, lassen dort ihre Kinder studieren. Die Menschen schreiben das Lukaschenko zugute. Es stört sie die intellektuelle Unreife und Brutalität des Regimes, doch die Leute haben sich damit abgefunden. Und sie glauben der Opposition nicht.
Macht der Westen den Fehler, Weissrussland mit seinen Nachbarländern zu verwechseln?
Ja. Aber wir sind nicht wie die Ukrainer. Wir sind auch keine Balten oder Russen. Dort gibt es starke nationale Ideen. Wir aber haben die ganze Zeit unter polnischer oder russischer Herrschaft gelebt. Unser hauptsächliches Bestreben ist zu überleben. Ich habe ein Haus auf dem Land. Da lebe ich unter Bauern. Unter ihnen gilt nicht Verstand als Vorzug, sondern Gewitztheit. Lukaschenko erfüllt das ideal. Er fährt los – und einigt sich mit Russland. Er trickst den Westen aus. «Das soll ihm erst mal einer nachmachen!», sagen sich die Leute. Eine nationale Idee besitzt nur ein kleiner Teil der Elite. Wir sind keine Nation, wir haben keine nationalen Mythen. Niemand spricht weissrussisch. Die Elite, die ohnehin polnisch war, hat Stalin vernichtet. Paradoxerweise existiert das Phänomen Weissrussland auch für die Aussenwelt erst seit Lukaschenko. Auch im Innern hat er dem Land eine Identität verliehen. Er sagt die ganze Zeit: «Wir sind von Feinden umzingelt.» Auf diese Weise sind sich die Menschen ihres Staates erst bewusst geworden.
Es wird also keine Revolution geben?
Wir sind nicht das Volk dafür. Die Menschen haben Angst vor Veränderungen. Mit gutem Grund. Sie sehen, was in Russland passiert ist oder in der Ukraine und wie schlecht die Menschen dort leben. Ausserdem wird Lukaschenko ohne Blutvergiessen nicht abtreten. Deshalb werden sich die Menschen mit Lukaschenko arrangieren.
Wie ist derzeit die Situation der Leute im Gefängnis?
Die ganze Opposition ist unters Messer geraten. Es gibt eine Liste mit mehr als hundert Personen, die vor ein Gericht gestellt werden sollen. Im letzten Monat gab es ständig Durchsuchungen und Verhaftungen. Das ist eine menschliche Katastrophe. Und es ist nicht ausgeschlossen, dass es zu Schauprozessen kommen wird. Die Oppositionellen werden als Aufrührer und Brandstifter gebrandmarkt. Auf Umsturzversuch steht lebenslänglich.
Haben die Menschen Angst?
Ja. Wir hatten noch nie einen so schrecklichen Silvester. Die Fenster waren halbdunkel, Cafés und Restaurants halb leer. In Weissrussland hat man immer mit einem äusseren Feind gekämpft. Und plötzlich stellt sich heraus, dass am 19. Dezember auf dem Unabhängigkeitsplatz dein eigener Nachbar auf dich eingeprügelt hat. Es ist ein Schock. Das Land ist erwachsen geworden. Alle, sogar die Minister, sind Geiseln eines einzigen Mannes.
Sind westliche Sanktionen, etwa in Form von Reisebeschränkungen für die Nomenklatura, wichtig?
Sicher. Aber Europa ist zynisch, es hat seine Interessen. Ausserdem weiss ich nicht, inwiefern man auf diese Weise auf Lukaschenko Druck ausüben kann. Er reist sowieso nirgendwohin. Man hat ja im Westen solche Angst vor ihm. Wirtschaftliche Sanktionen sollte man lieber unterlassen. Wenn der Westen die Kredite einfriert, werden darunter vor allem die einfachen Menschen leiden. Es wäre das Klügste, die Zivilgesellschaft zu unterstützen. Lukaschenko hat sie jetzt ihrer Köpfe beraubt.
Wer hat überhaupt Einfluss auf Lukaschenko?
Nur der Kreml. Lukaschenko hängt ökonomisch von Russland ab. Das ist die einzige Form des Drucks, die Wirkung zeitigt.
Ihr neues Buch heisst «Zeit: Secondhand. Das Ende des Roten Menschen.» Halten Sie es für möglich, dass der Stalinismus wiederkehrt?
Alle haben wir den «Archipel Gulag» gelesen. Wir dachten, das sei Geschichte. Doch es stellte sich heraus: Die stalinistische Maschinerie kann man innerhalb von Sekunden anwerfen. Das hat mich erschüttert. Ich hätte nicht für möglich gehalten, dass so viele Leute bereit sind, sich zum Henker zu machen. Der Kommunismus ist nicht tot. Die Minsker Ereignisse haben mir auf traurige Weise das Ende für mein Buch gegeben.
Einzigartige Mentalitätsgeschichte
B. L. ⋅ Die 1948 geborene Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch gilt als wichtigste intellektuelle Stimme Weissrusslands. Die studierte Journalistin hat in den letzten Jahrzehnten fünf Bücher veröffentlicht, die eine Chronik der «roten Zivilisation» bilden. Sie hat das Leid der russischen Frauen und Kinder im Zweiten Weltkrieg dokumentiert, den versteckten Krieg in Afghanistan, den Freitod der am Untergang des Sowjetreiches zerbrochenen Sowjetbürger und die Katastrophe von Tschernobyl. Die Stimmen von über 3000 Leuten hat sie in ihren Büchern zu emotional aufwühlenden Monologen verdichtet. In ihrer Heimat sind ihre Bücher seit Alexander Lukaschenkos Machtantritt verboten. Swetlana Alexijewitsch gilt als Oppositionelle, die letzten sechzehn Jahre hat sie vor allem im Ausland verbracht. Vor den Wahlen kehrte sie zurück, um abschliessendes Material für ihr fünftes Buch: «Zeit: Second Hand, das Ende des Roten Menschen» zu sammeln. Nach dem blutigen Niederschlagen der Minsker Proteste am 19. Dezember schrieb sie Lukaschenko einen offenen Brief, in dem sie ihm Rückkehr zu stalinistischen Methoden vorwarf. Momentan ist die Autorin Stipendiatin des Künstlerprogramms des DAAD in Berlin.