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Feinde im eigenen Staat
Zwischen Anarchie und Faschismus: ein Trip durch Moskaus Underground
Von Barbara Lehmann
27. Juli 2000 Quelle: (c) DIE ZEIT 2000
Die Reise ins Dunkel des russischen Extremismus beginnt im verschwenderischen Rotgold der Abendsonne. Sie macht die schäbigen Hauswände der Plattenbauten am Stadtrand von Moskau durchsichtig wie Papier. So scheinen sie sich aufzuschwingen in die unendliche Weite des Himmels. Dazwischen wilde Abfallgruben, Erdhügel, Eisbuden, die „Desinfektionsstation Nr. 6“. Besoffene Weiber blecken ihre Goldzähne, ein kleines Mädchen balanciert einen rosa Ballon, ein Range Rover rast vorbei. Vor dem ehemaligen Haus der Kultur, das von den hämmernden Kakophonien der faschistischen Punkrockgruppe Metallkorrosion erbebt, verprügeln zwei Jungen einen Dritten. Russisches Wüstenland, Genrebilder der Ödnis.
„Ich habe das Gefühl der Zeitlosigkeit, mir scheint, ich trete auf der Stelle“, sagt die Lyrikerin Alina Wituchnowskaja, unsere Führerin durch die junge radikale Moskauer Szene. Im trübe beleuchteten Korridor der Wohnung ihres Dichterfreundes Oleg Gastello stolpern wir über die Bruchstücke eines beschädigten Lebens, das sich im einmonatigen Alkoholexzess aufzulösen droht. Oleg, ein glatzköpfiger Hüne, das bleiche Gesicht von Messerstichen zerfurcht, der muskulöse Körper bedeckt von faschistischen Runen, ist eine Schlüsselfigur der Moskauer Subkultur. Ihm gehörte der Rockclub Sexton Fo.Z.D., den die Mafia abfackelte; er ist Literat sowie ideologischer Inspirator der Männerzeitschrift Medwed (Der Bär). Im Dauerclinch mit dem neureichen Finanzier des Blattes, erprobt er hier den Spagat zwischen antibourgeoisen Reportagen und soften Geschichten über Pornoqueens. In seinem Roman Der letzte Antisemit träumt sich Gastellos Alter Ego zum Regimefeind Nr. 1 empor. Ein kannibalischer Frauenschänder à la Hannibal Lector aus dem Schweigen der Lämmer, führt er seine faschistischen Bataillone zum Kampf gegen die Bande aus kapitalistischen Bonzen, korrupten Demokraten und Natoführern, die Russland im Würgegriff hält. Doch der Siegeskarneval des wieder erstarkten Volkes währt nur drei Tage. Dann stellen sich Moskaus Bürgermeister Loschkin und seine Getreuen an die Speerspitze der Bewegung, konfiszieren das Eigentum, rationieren die Güter, auf dass der geprellte kleine Mann wieder Schlange stehe wie in sowjetseligen Zeiten. Die faschistischen Krieger werden gekreuzigt. An Laternenpfähle gehängt, schweben sie über der Stadt.
Der nächste Tag, die nächste Station unserer Reise. Alina Wituchnowskaja steigt die Treppen zur noblen Galerie Regina empor, die sich zwischen den Edelboutiquen und Feinschmeckerlokalen der Twerskaja im Zentrum Moskaus versteckt. „Ich verbinde den Faschismus nicht mit Konzentrationslagern und Nationalismus“, sagt die Dichterin. „Für mich ist er die Apotheose der Rebellion, des Kampfes gegen die Realität, die Bestätigung des Übermenschen, als Alternative zum Demiurgen oder zur Natur, die uns zwingt, so zu sein, wie wir zu sein haben, ohne dass wir es selbst wollen.“
Klirren, Kreischen, Knirschen. Elektronisches Kreissägenkonzert. Albtraummusik eines Terminators. Es ist der Soundtrack einer Video- und Fotoinstallation des New-York-Heimkehrers Jaroslaw Mogutin. Auf zwei Monitoren und zahlreichen absichtsvoll chaotisch an die Wand gepinnten Fotos irrt ein Mann in absurder Kostümierung – schwarze Uniform mit silbernem Posament, Dreispitz und schwarze Halbmaske – durch eine surreale Industrielandschaft: Betonmischer, Lore, Zement, Eisen, Bauschutt. Da heult die Alarmanlage auf. Polizeisirenen. Der Schnee des Feuerlöschers erfüllt die Hallen. Auf der Paradeuniform erscheinen Blutflecken. Wohin fliehen? Der Sieger wird zum Opfer. Lärmterror ist die einzige Waffe.
„Zerstörung ist Schöpfung“ wird auf einer großen Metalltafel Bakunin zitiert. Auch Mogutin wurde einst wie Alina Wituchnoskaja von Staatsanwaltschaft und Geheimdienst gejagt. Doch anders als die Dichterin, die auf Betreiben des „Föderalen Sicherheitsdienstes“ (FSB) – so heißt heute der KGB – ein Jahr im Butyrka-Gefängnis saß, floh er vor der drohenden fünfjährigen Haftstrafe in die USA. Während die damals 21-jährige Alina eher unbedacht in die Fallstricke des FSB stolperte, hatte Mogutin die Provokation bewusst gesucht. Im intellektuellen Revolverblatt der Nationalbolschewistischen Partei des Schriftstellers Eduard Limonow veröffentlichte er seine Thesen zur „Vernichtung der Intelligenzija“, außerdem ein Pamphlet gegen die damals Tschetschenien-freundliche Haltung der Intellektuellen. Deshalb drohte ihm 1995 ein Prozess wegen „nationaler Aufwiegelung“.
Heute, an einem heißen Moskauer Sommertag, begegnen sich die beiden erstmals persönlich. Der 26-jährige blonde, blauäugige Mogutin, dessen gestählter Körper begehrtes Objekt internationaler Maler und Fotografen ist und der auch in preisgekrönten Gay-Pornos agiert, sitzt der 27-jährigen Dichterin Alina mit den dicken Zöpfen gegenüber, die junge Männer aus Limonows Partei als Dienstboten benutzt. Beide haben inzwischen die Rollen getauscht. „Ich habe keine ideologischen Ambitionen mehr“, sagt Mogutin, „mich interessiert nur die Kunst.“ In seinen amerikanischen Jahren erprobte er sich als Dichter, Videokünstler und Fotograf. In ironischen Metamorphosen beschreibt er sich in seinen Werken als Bauernjunge, Junkie, Paria, Schwuler, Hollywood-Rambo, Faschistenführer, Revolutionär. Obs- zön und schrill jongliert er mit Gewalt und Sex. Alina dagegen kommt nicht los von ihrem Slogan: „Nur wenn ich in der Presse existiere, bin ich.“ Sie ist abhängig von der radikalen Geste, die reine Kunst ist ihr zu marginal, sie will ihre Ideen der Masse aufzwingen. Der Mensch, sagt sie, versuche immerzu, die Form zu glorifizieren, in der zu existieren er gezwungen sei. Aber damit erniedrige er nur sich selbst und erhebe den Schöpfer. Man könne sich nur erhöhen, indem man die Realität vernichte und zu seiner eigenen Idee werde. Da dies nur theoretisch möglich, praktisch aber unmöglich sei, müsse man die Nichtswürdigkeit der Existenzform akzeptieren, die dem Menschen aufgezwungen sei. Macht mich zum Helden eures Comicstrips heißt eines ihrer programmatischen Gedichte. Sie stehe außerhalb der menschlichen Konzeption, sagt Alina zu Mogutin, seit ihrer Kindheit wisse sie das. „Du kannst einfach so leben, ich kann das nicht.“ – „Such dir einen anderen Ort“, erwidert Mogutin trocken. „Deine Weltsicht ist zu hermetisch und statisch, so verlierst du deine Produktivität.“
Alina erklärte die anderthalb Jahre Haft im Butyrka-Gefängnis und die absurden Prozesse wegen angeblichen Drogenhandels einfach zur konzeptuellen Aktion. Ziel: Provokation des Publikums. Mittel: das eigene Leben. Eingesperrt in einen Käfig, saß sie im Gerichtssaal, eine Lady in black mit hüftlangen Locken, den blutroten Mund zu einem angestrengten Lächeln verzogen, halb französische Prostituierte à la Baudelaire, halb deutsche Extremistin (die sie aus Videos deutscher Autorenfilme kennt). Statt das Opfer einer Geheimdienstintrige zu spielen, sich einzureihen in die vaterländische Ehrengalerie mundtot gemachter russischer Dichter, provozierte sie ihre liberalen Verteidiger mit dem Image der „gesunden Faschistin“.
Wer früher liberal war, träumt heute von russischer Größe
Ein Forum für die Diskussion darüber bietet seit Jahren Eduard Limonows Nationalbolschewistische Partei, ein Sammelbecken paradox denkender junger Intellektueller und Künstler. Aus dem Trauma von persönlicher Deklassierung und nationalem Bedeutungsschwund entstand hier eine bizarre Synthese aus linken Leitsätzen von sozialer Gerechtigkeit und den rechten Parolen von der Wiedergeburt Russ- lands im eurasischen Großreich. Dabei fischen die Künstler in trüben Gewässern, in denen der ideologische Abfall dieses Jahrhunderts vor sich hin fault. Ihre Beute verwandeln sie in vieldeutige ästhetische Codes, die ins Mark nationaler Empfindlichkeiten treffen. Die Underground-Rockgruppe Verbotene Trommler schaffte plötzlich mit dem Song Die machten einen Neger kalt den Sprung in die russischen Charts. Gegen alle Political Correctness jongliert sie mit rassistischen Parolen und sowjetimperialen Texten zu karibischen Weisen und dem Liedgut der fünfziger und sechziger Jahre, doch das Ziel ihrer satanisch-melancholischen Gesänge ist nichts weniger als die Totalrevision aller gesellschaftlichen Fundamente. Und der populäre Georgij Ossipow, Pseudonym Graf Chortiz, der die Radiosendung Transsilvanien schafft Unruhe moderiert, trägt seine radikalen Ideen zu Schnulzen aus der Zeit des Warschauer Pakts vor.
War die „Demokratie“ der vergangenen Jahre also nur ein kurzer Spuk? Längst hat die Mehrheit der großen Parteien die ultraliberale Nische verlassen und proklamiert genau wie die kleinen Gruppierungen Patriotismus und Eurasiertum. Limonows Partei wurde zwar die offizielle Registrierung verweigert, aber nun probt man den Aufstand in spontanen politischen Aktionen. Doch auch der FSB meldet sich als Mitspieler auf dem Kunstrasen der Politik zurück: Er verbot die vor den Wahlen auf dem Roten Platz geplante Aktion Gegen alle Parteien der linken Künstlergruppe Nichtstaatliche Kontrollkommission und brach in die Wohnung ihres ideologischen Kopfes Anatoli Osmolowskij ein. Einige nichtkommerzielle Veranstaltungsräume, wie der Club Arme Leute, wo früher Avantgardemusik und Poesie erklangen, wurden Anfang des Jahres dichtgemacht. Auch das erste Moskauer Internetcafé Screen wurde im April geschlossen.
Der Versuch, Modelle der westlichen Gesellschaften für das heutige Moskau zu übernehmen, führt gerade in den angeblich ideologie- und politikfreien Reservoiren der Spaßgesellschaft zu Skandal und Repression. Die Stigmatisierung der Künstler bewirkt eine Radikalisierung, die die Grenzen zwischen Politik und Religion, Ästhetik und Leben aufweicht. Die Selbstinszenierung wird zum revolutionären Akt.
Mut‘ Revoluzii, der Bodensatz, das Trübe, das Chaos der Revolution, heißt das Kultbuch der radikalen Jugend von Dmitrij Pimenow. „Der Krieg ist verloren, vor allem mental. Man empfing mich als Feind, Verräter, Gespenst, Debilen, der nicht mal lesen kann“, schreibt er in seinem Roman. Darin gerät ein Kundschafter ins Fangnetz des Geheimdienstes, der ihn unter Drogen setzt und gefügig macht. Doch Pimenows Held sucht auch aus eigenem Antrieb das psychedelische Experiment, den Freiraum geistiger Anarchie. Mit seinen abgerissenen Reflexionen, Gedichtfetzen, Kinderzeichnungen, der zerstörten Syntax und den Wortruinen ist der Roman selbst das Dokument einer zerrütteten Psyche. Jetzt, an einem kühlen Sommerabend, gerade aus der Emigration in Prag zurückgekehrt, irrt Pimenow durch seine spärlich möblierte Moskauer Wohnung, ein manisch-depressiver Clown, sprachlos, verwirrt. Manchmal taucht er in der Küche auf, hektisch auf der Suche nach Belomor-Filterzigaretten und Tee. „Dima weiß nicht, wer er ist, wie er lebt, wieso, warum“, sagt seine Frau, die Künstlerin Maria Demskaja, die jeden seiner Schritte kontrolliert. „Wenn die Kunst zum Leben wird, verschwimmen die Grenzen zwischen Illusion und Realität. Du sitzt zu Haus, gehst schlafen. Und plötzlich eine Explosion. Ein dummer Zufall, der das Leben eines jeden von uns zerstören kann.“
Am 31. August 1999 detonierte eine Bombe im Manege-Einkaufszentrum unter dem Roten Platz. Eine Frau wurde getötet, 41 Menschen wurden verletzt. Am Tatort fand sich ein Flugblatt mit Zitaten aus Poemen und Erzählungen Pimenows, geschickt kompiliert als Aufruf der Stadtguerilla zu terroristischen Aktionen. Pimenow, im Rausch des Ruhms, gab Tag und Nacht Live-Interviews, sein Foto prangte auf den Titelseiten. Dann verkündete ein FSB-Offizier im Fernsehen, man habe Pimenows Texte „intensiv“ studiert – sie seien offensichtlich das Produkt eines Geistesgestörten. Die Spur sei falsch, Pimenow nicht länger verdächtig. Kurz darauf durchsuchte der Geheimdienst dennoch seine Wohnung, schleppte ihn zum Verhör. Man befragte ihn bis zwei Uhr nachts, drohte mit Haft. Pimenow und seine Frau baten in Prag um politisches Asyl. Sie lebten im Flüchtlingslager, Pimenow kam für 25 Tage in eine psychiatrische Klinik. Aus dem Terroristen wurde der Idiot.
Einer will die Welt retten – und kann nicht mal sich selbst helfen
„Selber schuld“, sagt Alina. „Statt ein Held zu werden, bist du nach Prag ausgereist und in der Klapse gelandet. Und das ist dann übrig geblieben von unserem russischen Schriftstellerhelden.“ Dann fallen ihre Augen zu. Versehentlich hat sie eine ganze Flasche Tranquilizer getrunken. „It’s my image, my job!“, kräht Pimenow.
Der Anarchist sei eingesperrt in einem mental geschlossenen gesellschaftlichen Raum, in ein Kabinett mit schiefen Spiegeln, schrieb Pimenow einst. Verfolgt von den Bildern, die die Zuschauer sähen, führe dies zu Klaustrophobie und Tod. Jetzt stürmt er in die Küche. „Hier herrscht Krieg! In Tschetschenien werden jeden Tag mehr Bomben und Raketen abgeworfen als im ganzen Kosovo-Konflikt! Fragen von internationaler Bedeutung werden entschieden. Ich will dabei mitwirken! Mit meinen Texten, meinen Performances, meinen Intrigen!“ – „Kinderspiele“, sagt seine Frau traurig. „Niemals wird Dima eine Revolution machen, er kann das gar nicht.“ Pimenow fragt: „Mascha, darf ich jetzt unter die Dusche?“
Shakespeares Romeo ist hier ein Roboter, eine mechanische Puppe, die von einem Strom wahnwitziger Leidenschaft angetrieben wird und sich wie in Trance bewegt, ein Tiergott, der statt eines Kopfes den Schädel eines kaukasischen Ebers auf den Schultern trägt. Als Romeo Julia seine Liebe gesteht, taucht er ihre Hand in eine Teekanne mit heißem Wasser. Dann nimmt er den Eberkopf ab und rollt ihn ihr über einen blutrot angestrahlten Tisch entgegen. Die wenigen Bruchstücke, die hier von Shakespeares Text übrig geblieben sind, hallen aus dem Lautsprecher. „Der Konflikt entsteht nicht zwischen den Figuren, sondern zwischen dem Schauspieler-Ich und der Figur, zwischen den Figuren und dem szenischen Raum, zwischen den Klängen und magischen Manipulationen, die das Schauspieler-Ich hervorruft“, sagt Epifanzew. „Das Schauspieler-Ungeheuer, das Schauspieler-Monster.“
Anderthalb Jahre hielt Epifanzew eine verlassene Fabrik unweit des Moskwa-Ufers besetzt, einen Katzensprung vom Kreml entfernt. Die „Fabrik der kardinalen Kunst“, später umbenannt in die „Fabrik der traditionellen Kunst“, war sein Luftloch. Er hat sie selbst instand gesetzt, Leitungen gelegt, die Heizung installiert. Verborgen hinter zwei Höfen und einem schwarzen Eisentor, zelebrierte er sein sakrales Theater der Grausamkeit, seine sadomasochistischen Rituale. „Das Leben ist für mich Selbstzerstörung“, sagt Epifanzew, „die grausame Suche nach dem Unmöglichen. Als Symbol ist der Tod stärker als der Tod selbst. Darin liegt die Größe des Theaters.“ Angebote, an Moskauer Theatern zu spielen, lehnt er meist ab. „Ich habe nichts gegen Ruhm und Geld“, sagt er, „aber das, was ich mache, sind kostbare Steine, für die man teuer bezahlen muss. Im offiziellen Theater würde ich einfach ersticken.“
Zum Schluss von Romeo und Julia heult Epifanzews Romeo auf, Speichel rinnt aus seinem Mund – ein wahnsinniges Tier im Aufstand gegen die Schöpfung. Literweise tropft schwarzes Blut auf die Liebenden herab. Dunkel.
Auch für Epifanzews Fabrik der traditionellen Kunst gehen jetzt die Lichter aus. Der Ölkonzern Rosneft hat das Gelände gekauft. Bald wird hier eine Elektrostation entstehen, der illegal verlegte Strom ist bereits gekappt. Wir tappen mit Kerzen durch die dunklen Räume mit ihren kajütenähnlichen Luken, packen die Verstärker ein, die Kabel und das Steuerpult. Die Eisentür fällt zu. Das Chaos ist längst nicht aufgebraucht. Wir treten ins Freie.