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Nichts leichter, als ein Held zu sein
Wladimir Sorokin und Alina Wituchnowskaja im Gespräch
9. November 2000 Quelle: DIE ZEIT, 46/2000
Alina Wituchnowskaja: Mir ist es peinlich, Schriftstellerin zu sein.
Vielleicht tue ich Ihnen Unrecht, aber mir scheint, Ihnen gefällt es. Ich beneide Sie darum, denn ich kann so nicht weitermachen. Ich bin in einer Künstlerfamilie aufgewachsen. Schon früh hatte ich das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein. Als hätte man mir etwas entzogen, das keine Analogie in der Wirklichkeit hatte. Jeder dachte ständig über Kunst nach. Und mir schien, wenn ich die Kunst beherrschen würde, könnte ich auch über andere herrschen und ihr Bewusstsein manipulieren. Ich hatte nie den Wunsch, mich durch die Literatur selbst auszudrücken. Ich wollte immer nur andere beeinflussen. Doch als ich älter wurde, habe ich begriffen, dass das wenig bedeutet.
Wladimir Sorokin: Klar, die russische Literatur stand nicht mehr im Mittelpunkt, als Sie anfingen, sich damit zu beschäftigen. Der riesige Wal der russischen Literatur, der sich fast zwei Jahrhunderte in den Wellen getummelt hatte, wurde an Land gespült und begann zu faulen. Ich kam Mitte der siebziger Jahre zur Literatur. Damals war vom Zusammenbruch dieses Systems nichts zu spüren. Die Literatur war für mich eine sehr starke Droge, von der ich bis heute nicht loskomme. Ich glaube, die Literatur hat noch immer eine starke Wirkung auf die Massen. Vielleicht hat sie heute an Bedeutung verloren, doch der Film ist eine Massenkunst geblieben. Aber möglicherweise arbeiten Sie lieber mit Menschen als mit Papier. Mich interessiert am meisten, was nicht existiert.
Wituchnowskaja: Richtig. Das, was existiert, ist nicht nötig. Schon weil es bereits da ist, ist es nicht interessant.
Sorokin: Man kann nicht rational entscheiden, wohin es einen zieht: zur Literatur, zum Film, zum Theater – oder in die Politik. Man sucht sich seine Droge nicht aus, man verfällt ihr.
Wituchnowskaja: Sie haben mal gesagt: „Der Text muss totalitär sein.“
Sorokin: Nein: Jeder Text ist totalitär.
Wituchnowskaja: Sie überschätzen die Wirkung von Texten. Aber was ist für Sie die Droge: der Prozess des Schreibens oder die Illusion der Bedeutung von Literatur?
Sorokin: Der Prozess selbst. Ohne ihn könnte ich nicht überleben. Seit der Kindheit hat mir die Welt Angst eingeflößt. Ich konnte nicht verstehen, nach welchen Gesetzen sie funktioniert. Die Literatur ist mein Tranquilizer. Sie half mir, die Welt zu verstehen.
Wituchnowskaja: Würden Sie Ihre Texte den Menschen aufzwingen, wenn Sie reale Macht besäßen?
Sorokin: Wozu?
Wituchnowskaja: Ich würde es tun. Ich habe auch nicht verstanden, wie die Welt konstruiert ist. Schon als Kind kam ich mir wie ein Steinchen aus einem Baukasten vor, das nicht in die Struktur der Realität passt. Ich wollte das meinen Eltern erklären, doch für die waren das Kindertorheiten. Aber wieso soll ich die Ideologie und Gefühlssysteme von Millionen Menschen übernehmen, wenn keiner von denen mich wirklich begreifen kann! Auch die Literatur bot keinen Ausweg. Ich möchte, dass es beim Zusammentreffen von Text und Leser zu einer Explosion kommt. Sonst verwandelt sich alles in dekoratives Kunstgewerbe.
Sorokin: Hat ein literarisches Werk denn niemals wie ein Blitz oder eine Droge auf Sie gewirkt?
Wituchnowskaja: Nur in der Kindheit. Damals habe ich mehrere Bücher am Tag verschlungen. Aber dann wurde mir klar, dass ich auf menschliche Erfahrungen oder Informationen verzichten kann. Sie nützen mir nichts.
Sorokin: Man hat nicht die Wahl, ob man Schriftsteller wird. Jeder Mensch, der zu schreiben beginnt, ist dazu gezwungen, weil ihm in seiner Umgebung oder in ihm selbst etwas fehlt. Und das versucht er zu kompensieren.
Wituchnowskaja: Aber ist Schreiben wirklich nur Sublimation?
Sorokin: Sehen Sie sich doch bloß die Biografien von Schriftstellern an! Alle wurden in der Kindheit stark traumatisiert: Sie haben ihre Verwandten verloren oder schwere Krankheiten und seelische Erschütterungen durchgestanden. Mir macht das nichts aus. Ich habe immer gesagt, dass Schriftsteller krank sind.
Wituchnowskaja: Und trotzdem wünsche ich mir, die Kunst möge eine reine Idee vermitteln, die nicht von kindischen Problemen, Neurosen und der Physiologie verunstaltet ist. Meine Texte müssten eine totalitäre Wirkung entfalten können: Statt Reklamespots sollten überall nur meine Textzeilen laufen. Das Fernsehen dürfte nur zeigen, was ich richtig finde.
Sorokin: Das ist literarischer Faschismus.
Wituchnowskaja: Der russische Faschismus ist die Apotheose der Postmoderne, er ist rein eklektisch. Viele seiner Anhänger sind von der Literatur enttäuscht. Sie wollen in ein stilvolleres und ästhetischeres Leben ausbrechen. Aber das ist eine Illusion.
Sorokin: Die russischen Faschisten sind rein vergangenheitsorientiert. Für sie ist der Faschismus etwas energetisch Abgeschlossenes. Sie sind ästhetische Faschisten, ihnen bleibt nur das äußere Dekor. Bei den deutschen Faschisten ist es übrigens genauso.
Wituchnowskaja: Die deutschen Faschisten sind sogar noch äußerlicher und dekorativer. In Deutschland entsprechen die Menschen maximal ihrer sozialen Rolle. Es kommt ihnen gar nicht in den Sinn, etwas anderes darzustellen.
Selbst die Junkies verkörpern Junkies aus dem Film Trainspotting.
Andererseits ist es ja vielleicht gut, wenn jeder seine Nische kennt. Die grenzenlose Verschwommenheit des russischen Lebens ruft nur Zweifel und Schizophrenie hervor.
Sorokin: Ohne diese Schizophrenie könnte ich aber nicht leben. Wenn ich mehrere Monate im Westen bin, kriege ich Atemnot. In der streng strukturierten westlichen Gesellschaft ist es mir zu eng. Ich könnte nie emigrieren.
Wituchnowskaja: Das erste Mal wurde ich aus dem Gefängnis mit der Auflage entlassen, nicht auszureisen. Mir war klar, dass ich bald wieder verhaftet würde. Man bot mir politisches Asyl in der Schweiz an, aber ich habe abgelehnt. Besser ein Held sein, dachte ich, das ist ohnehin am einfachsten.
Auch ich könnte nie emigrieren. Als ich später im Ausland war, habe ich erkannt, dass ich total patriotisch bin.
Sorokin: Wenn ich nur in Russland leben würde, wäre ich allerdings auch bald verrückt. Jemand hat mal gesagt, dass zwei Gefahren die Welt bedrohen: Ordnung und Unordnung. Russland ist der Antipode des Westens, eine total unberechenbare Zone, wo Gesetze nicht zählen. Aus der Distanz kann ich Russland besser begreifen. Gogol und Dostojewskij haben ihre besten Werke im Westen geschrieben. Aber ich will Ihnen eine konkretere Frage stellen: Sie haben anderthalb Jahre im Gefängnis gesessen. Der Dichter Joseph Brodskij hat mal gesagt, das Gefängnis sei ein Ort, wo das Defizit an Raum durch ein Übermaß an Zeit kompensiert werde. War für Sie damals die Literatur wichtiger als in der Freiheit?
Wituchnowskaja: Klar. Im Gefängnis habe ich viel mehr gelesen. Leider gibt es in den Gefängnisbibliotheken fast nur Schund. Literatur ist effektiver unter totalitären Bedingungen, wenn andere Informationen und Ablenkungen fehlen.
Doch das war auch nur eine Falle. Als ich freikam, habe ich 70 Prozent der Texte aus meinem Gefängnistagebuch rausgeschmissen, vor allem die Zitate. Das wirkt nicht aufs Publikum. Ich selbst brauche es schon gar nicht. Neue Erfahrungen habe ich im Gefängnis nicht gemacht. Das wäre auch unlogisch, schließlich lehne ich ja prinzipiell das Leben ab. Eins aber hat mich dort verblüfft: Die Leute sitzen im Gefängnis, und das ist ihr Leben! Darin gehen sie völlig auf. In null Komma nichts eignen sie sich Gefängnisgewohnheiten und -mentalität an. Das wollte ich nicht. Meine Lebensform lasse ich mir doch nicht von irgendwelchen jämmerlichen Geheimdienstlern vorschreiben! Deshalb habe ich mich entschlossen, meinen Gefängnisaufenthalt zur konzeptionellen Aktion zu machen. Wenn schon eine Aktion, dachte ich, dann unter Einsatz des eigenen Lebens. Ich verwandelte mich in eine Kunstfigur, die vorwiegend für ein virtuelles Publikum agierte, denn der Prozess begann erst ein halbes Jahr später. Mir ging’s dort also gar nicht so schlecht. Bei uns heißt es ständig: „Das Gefängnis traumatisiert die Menschen.“ Das Leben selbst ist schrecklich erniedrigend in all seinen Erscheinungen. Was für eine innere Blindheit und Gefühllosigkeit muss einer besitzen, um vom Gefängnis traumatisiert zu werden? Wie würden Sie sich fühlen, wenn Sie ins Gefängnis geraten würden?
Sorokin: Schon in der Schule und im Institut hatte ich Probleme, weil ich mich nicht ins Kollektiv einordnen konnte. Als Fremdkörper habe ich dort Aggressionen geweckt. Freiwillig möchte ich nicht im Gefängnis sitzen. Ich empfinde die ganze Welt als eine einzige Zone. Neunzig Prozent des Geschehens enttäuschen, nur zehn Prozent sind angenehme Zustände und Empfindungen.
Wituchnowskaja: Auch für mich war die Welt immer ein perfides Konzentrationslager. Man kann ihm nicht entfliehen. Der Tod wäre ein allzu leichter und idealer Ausweg.
Sorokin: Ja. Mit dem Selbstmord handelt man sich lediglich eine neue Frist ein. Das ist nur die Illusion eines Auswegs.
Wituchnowskaja: Ich kann nicht Schluss machen aus zwei Gründen: Leben und Tod sind nicht meine Erfindung, deshalb will ich weder das eine noch das andere wählen. Und dann geht es mir beim Selbstmord auch wie einer Figur Jurij Mamlejews: Einer verlässt das Haus mit dem Gedanken, dass er heute stirbt. Er geht in den Hof, sieht eine Katze und klatscht sie an die Wand mit den Worten: „Warum soll diese Kreatur weiterleben, wenn ich sterbe?“ Ich glaube nicht an Humanismus. Aber woher nehmen Sie Ihre Ruhe, wenn Sie doch ähnliche Ansichten haben?
Sorokin: Das ist nur äußerlich. Ich bin nicht ruhig, sondern zugedröhnt. Ich stehe stark unter Drogen.
Wituchnowskaja: Wie meinen Sie das?
Sorokin: Ich lebe in literarischen Räumen. Seit der Kindheit existiere ich in zwei Welten: der starken Welt der Fantasie und der grauen Welt, die mich umgab. Jetzt gehen sie ineinander über.
Wituchnowskaja: Das beschreiben Sie auch in Ihrem neuen Roman Der himmelblaue Speck.
Sorokin: Ich versuche, diese beiden Welten zu vereinen. Es ist ein Roman in der Möglichkeitsform. Wie eine Schichttorte hat er sehr viele Realitäten.
Jeder Mensch fragt sich doch: Wie hätte sich die Geschichte entwickelt, wenn die Deutschen die erste Atombombe erfunden hätten? Oder wenn Hitler und Stalin gemeinsame Sache gemacht hätten?
Wituchnowskaja: Hitler und Stalin werden entgegen den vorherrschenden Vorstellungen als relativ anziehende Dekadente gezeigt. Sie sind Ästheten wie aus Filmen Viscontis.
Sorokin: Dem Roman ist ein Satz Nietzsches vorangestellt: „Es gibt mehr Götzen als Realitäten in der Welt.“ Ich habe mich immer mit der Zerstörung von Mythen und der Klischees der kollektiven Wahrnehmung beschäftigt. Im 20.
Jahrhundert ist Hitler die einzig wirklich tabuisierte Figur. Über ihn darf man nur sehr vorsichtig scherzen. Tabuzonen ziehen mich an. Es gefällt mir, da einzudringen. Dort ist lebendiges Fleisch, das man essen kann, indem man dieses Tabu zerstört. Solche Zonen sind selten. Die Kultur ist ein kolossaler Bauch, der alles verdaut und in eine Ware verwandelt – selbst Schriftsteller wie Genet oder De Sade, die längst ihren Verbrecherstatus verloren haben. Mit Hitler ist das bislang nicht passiert.
Wituchnowskaja: Hitler ist doch längst ein Massenprodukt. Fast eine Mickymaus, eine Popfigur.
Sorokin: Aber nur in Russland.
Wituchnowskaja: Eine Figur ist immer besser als ein Mensch – sie ist lebendiger, farbiger, konkreter. Für mich ist Hitler eine Figur aus der Kindheit. Ich habe ihn rein emotional erfasst. Als Kind habe ich mich sehr einsam gefühlt. Die einzige Figur, die mir nah war, war aus irgendeinem Grund Hitler. Jetzt sieht das natürlich anders aus. Ich frage mich, ob das überhaupt Hitler war, den ich mir damals vorgestellt habe. Ich habe mir eingebildet, dass nur sehr selten Menschen in der Realität auftauchen, die ihr so wenig entsprechen wie Hitler. Als besäße er ein transzendentes Potenzial, das sich in keiner Weise in die Wirklichkeit einfügen ließe. Das würde ihn auch der Verantwortung entheben. Seine Energie brächte die Handlungen eines Mutanten hervor. Er wäre kein Faschist, kein Übeltäter, sondern ein anderer und verfügte über eine kolossale Energie. Und es wäre nicht seine Schuld, dass die Welt ihm nicht gewähre, in sie hineinzupassen.
Sorokin: Deleuze und Guattari schreiben in ihrem Anti-Ödipus, Phänomene wie Hitler, Stalin oder Lenin seien gänzlich von der Masse erzeugt worden. Man dürfe sie außerhalb des riesigen kollektiven Körpers nicht wahrnehmen. Sie erinnern mich an eine Art von Tiefseefischen: Das Weibchen ist einen Meter groß, das Männchen nur zwei Zentimeter. Nach dem Geschlechtsakt löst sich das Männchen praktisch im Körper des Weibchens auf. Hitler fiel die Rolle dieses Männchens zu, er hat die Deutschen befruchtet. Ansonsten war er wohl eher ein Durchschnittsmensch. Der sowjetische Blick auf Hitler war sehr spezifisch.
Und Sie haben in Ihrer Kindheit wohl einfach nach Helden gesucht.
Wituchnowskaja: Ich hab mir nur eingebildet, Hitler sei mir irgendwie ähnlich. Ich selbst wollte ein Held sein.
Sorokin: Für uns Kinder war Hitler nicht nur ein Monster. Die sowjetische Propaganda hat ihm etwas tief Geheimnisvolles verliehen.
Wituchnowskaja: Das irrationale Böse?
Sorokin: Klar, für die Sowjetbürger war er das absolute Böse – ein der Hölle entstiegener Dämon. Die geheimnisvolle Aura seiner letzten Stunden – dass er im Bunker vor dem Freitod seine Geliebte heiratete – hat ihm die Züge eines dämonischen Romantizismus verliehen, der stark auf Kinder wirkte. Mein Hitler-Bild hat sich durch Filme und den kollektiven mündlichen Mythos gebildet.
Wituchnowskaja: Mir war er schon deshalb sympathisch, weil ihn keiner liebte.
Alle Menschen waren für mich Monster. Und wer für diese Monster ein Monster war, der musste gut sein.
Sorokin: Das ist die typische Wahrnehmungsweise eines autistischen Mädchens.
Waren Sie in Ihrer Kindheit sehr in sich versunken?
Wituchnowskaja: Wie man’s nimmt. Aber ich sehe eigentlich keinen Widerspruch.
Wir haben eine ähnliche Weltsicht. Bloß akzeptieren Sie die Situation, wenigstens teilweise. Ich schaff das nicht.
Sorokin: Ich habe eben alles, um bis zum Tod über die Runden zu kommen: meine Droge – die Literatur, den Film und die Musik. Das reicht mir. Meine Lebenssituation kann ich nicht ändern. Wie haben eigentlich die Katastrophen der letzten Zeit auf Sie gewirkt: die Bombendetonationen, der Untergang des U-Boots und der Brand des Fernsehturms?
Wituchnowskaja: Was nie existiert hat, kann auch nicht untergehen. Ich hatte nie ein geschlossenes positives Bild von der Welt. Ich habe immer sehr deutlich das Chaos gespürt. Noch vor ein paar Jahren hätten diese Ereignisse das Chaos visuell begleiten können. Doch jetzt ist die Realität leer und ereignislos. Auch wenn sich die Katastrophen nun häufen und formal abartig sind, können sie nicht mehr auf das Bewusstsein wirken. Die Situation ist längst klar. Es wäre eine Illusion, dass die äußere Welt sich ändern könnte.
Sorokin: Stimmt. Als 91 das Weiße Haus beschossen wurde, hat mich nicht das Ereignis selbst erstaunt, sondern die innere Ruhe, mit der ich es wahrgenommen habe. In Russland gab es immer Panzer und Morde, nur in anderen Formen. Die Gewalt im Kindergarten und in der Schule war hundertmal schlimmer als diese Panzer. In meiner Jugend habe ich die Gewalt physisch gespürt, sie war überall. Für mich ist es nichts Neues, wenn jemand totgeschlagen wird.
Ich bin seit vierzig Jahren darauf vorbereitet. Oft fragt man mich im Westen: „Was denkst du über Tschetschenien?“ Ich denke gar nichts. Ich bin mehr verstört, wenn mein Warmwasserhahn tropft oder wenn ich keine sauberen Unterhosen habe. Trotzdem helfe ich natürlich, wenn es jemandem schlecht geht. Die Gewalt ist die Luft, die wir seit der Kindheit atmen.
Wituchnowskaja: Die Gewalt ist so schwammig und undeutlich, dass sie keinen Bezug zum absoluten rationalen Bösen hat. Sie ist sinnlos, stillos, irrational. Doch die Irrationalität ist nicht unheimlich und geheimnisvoll, sondern plump. Sie gleicht einem alten Lappen, in den man Nadeln hineinsticht. Sie berührt nicht. Und keineswegs deshalb, weil wir zynisch sind.
Sorokin: Natürlich sind diese Ereignisse nichts Neues. Im Himmelblauen Speck wird die Gewalt bis zu einem bestimmten Grad ästhetisiert. Stalin ist ein großer, schöner Mann mit intelligentem Äußeren und ein raffinierter Fixer.
Deshalb muss auch die Gewalt raffiniert sein. So sind die Spielregeln. Es ist der Versuch, die Gewalt als Schönheit zu begreifen.
Redaktion und Übersetzung: Barbara Lehmann