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Realer als die Wirklichkeit

In Russland wird vielen prominenten Schriftstellern der Prozess gemacht. Was wie ein Angriff auf die Freiheit des Wortes aussieht, ist eine bizarre Melange aus Marktkalkül, politischem Kampf und Kunst

Von Barbara Lehmann
17. Oktober 2002 Quelle: DIE ZEIT, 43/2002

Das Tier im Käfig ist ein Schriftsteller. Dürrer Körper, schlotternder schwarzer Anzug, graue Locken, in der Hand hängt matt die Waffe: ein Manuskript. Die vier Mitangeklagten, zwei angefressen von Tuberkulose, rollen sich neben ihm zusammen, igelgleich. Links vom Käfig kauert die Sechste im Bunde, ein junges Mädchen, lächelnd wie ein Ikonenengel.

Saratow, Bezirksgericht. Seit einem Monat wird hier dem Schriftsteller und Parteiführer Eduard Limonow der Prozess gemacht. Die Tragödie der zaristischen und sowjetischen Schriftstellerprozesse wiederholt sich als Farce. Das Drehbuch: schlecht geschrieben. Die Rollen: verschwommen. Die Akteure: kippen vom Pathos in die Ironie in die Camouflage. Der Hauptdarsteller: Rambo in fünf Kriegen, Frauenheld, seit 1994 Führer der rotbraunen NBP, der Nationalbolschewistischen Partei. Sie will wieder kollektives Eigentum und ein eurasisches Großreich von Wladiwostok bis Gibraltar. Limonows autobiografische Romane beschreiben seinen Weg vom unbewussten anarchistischen Protest gegen das Establishment zum bewussten bewaffneten Kampf für das Glück des Volkes. Opfer- und Heldenträume eines ewig gekränkten Kindes, dessen Vater ein kleiner Geheimdienstoffizier in der Provinz war, münden in russische Weltmachts- und Erlösungsfantasien. Unter Jelzin hat man sie belächelt und geduldet. Das Putin-Regime liest sie als Szenarien eines realen Krieges.

„Alles Lüge, Hirngespinste des Geheimdienstes!“, ruft Limonows Verteidiger Sergej Beljak. Unterm Hemdsärmel des Staranwalts schimmern Tätowierungen, in seiner Heimatstadt Moskau kursiert eine CD mit seinen erotischen Fantasien.

Drei der vier Anklagepunkte, Aufrufe zum Umsturz der Staatsmacht, Vorbereitung von Terrorakten und die Gründung einer Armee, fegt er weg wie eine Schöne lästige Verehrer. Literarische Texte, diese windigen Beweise, würden von den Geheimdienstlern zum Parteipogramm stilisiert. Im Visier der Fahnder steht die „Theorie des Zweiten Russlands“. Sie träumt von einer Revolution, von einem patriotischen Partisanenkrieg in der ehemaligen Sowjetrepublik Kasachstan, der dort die russische Minderheit befreit. Später werde, so durchwebt Hoffnung die letzten Zeilen, der aufrührerische Geist des Russland Nummer zwei auch das verfaulte Beamtenregime im Russland Nummer eins hinwegfegen. Der Text wurde von Limonow auf Parteikongressen zitiert und im NBP-Bulletin gedruckt.

Der Staatsanwalt trägt Sonnenbrille und wedelt mit rostigen Flinten

„Reine Literatur!“, ruft der Schriftsteller im Käfig und wirft sich gegen die Gitterstäbe. „Für sie gilt die Freiheit des Wortes!“ Ein graues Don-Quichotte-Bärtchen und die riesige Billigbrille verpassen Limonow den Altmännercharme eines Dissidenten der siebziger Jahre. Vor seiner Verhaftung hatte er als spätpunkiger Diktatoren-Klon in enger Lederkluft „Stalin!

Berija! Gulag!“ skandiert, in Saratow, nach 17 Monaten Untersuchungshaft, gibt er den ersten Märtyrer des demokratischen Regimes: „Russland ist wieder absolutistisch, Andersdenkende werden verfolgt. Dieser Prozess ist ein politischer!“

„Einspruch“, erwidert der sonnenbebrillte Moskauer Staatsanwalt, der schon den Tschetschenenführer Radujew hinter Gitter brachte. „Die Grenze vom Wort zur Tat ist längst überschritten.“ Hat Limonow, wie die 150 Seiten dicke Anklageschrift behauptet, also von einem „Partisanenstützpunkt“ in der Republik Altaj zur Eroberung Kasachstans gerüstet? Zum Beweis schwenkt die Anklage ihre einzige Trophäe: sechs rostige Maschinengewehre, die Limonows Genossen in Saratow erwarben, angeblich auf Geheiß ihres Führers.

„Fälschungen, Widersprüche, Ungereimtheiten!“, ruft Sergej Beljak. Zeugen der Verteidigung seien bedroht oder eingelocht, Dokumente vordatiert, Tonbänder manipuliert worden. Die Verkäufer der Gewehre, Parteigänger der faschistischen Rechtsnationalen Einheit, entkamen. Der Handel, auf Video gebannt, erfolgte unweit des Gebäudes des Geheimdienstes FSB. Wenig später warf ein gewaltiges Kommando der Moskauer FSB-Zentrale Limonow mit seinen Parteigenossen im Altaj-Gebirge telegen in den Schnee. Der Film über die Verhaftung lief gleich in der TV-Serie Kriminal. Dass sich in Limonows Feriendomizil nur Wollmützen, alte Hosen und Manuskripte fanden, blieb unerwähnt. Die Verhandlung wird vertagt.

Ortswechsel. Moskau, 2. Frunzenskaja, die Zentrale der Nationalbolschewiki, zugleich auch Redaktion der Parteizeitung Limonka im Kellergeschoss eines neunstöckigen Wohnhauses. Die Stufen zum „Bunker“ sind uneben, glitschig, Limonow hat sie selbst gelegt. Was nützt dem Geheimdienst der Wirbel um einen masochistischen Selbstdarsteller, dessen Rollen und Masken, Polaroids demonstrativen Andersseins, auch so Legende sind: apolitischer Provinzpoet, der in Breschnews Moskau für die Boheme Hosen näht, Paria-Emigrant in den Siebzigern im kapitalistischen Schlund von Manhattan, Salondichter der Pariser Bourgeoisie in den Achtzigern, Karadzic-Freund Anfang der Neunziger, Stalin-Apologet und Shirinowskij-Kumpan im liberalen Jelzin-Russland, Weggä nger des Islam und Polygamist im orthodox-kleinbürgerlichen Russland Putins. Immerhin, seine letzte Rolle – der Dissident im Käfig – hat ihm und seiner Partei Aufwind beschert.

Der „Bunker“, ein 350 Quadratmeter großes Kellerlabyrinth, dampft von Punks, Studenten, Girlies. Offene Gesichter, Lachen. „Wir sind Menschen der Ideen“, sagt einer mit pechschwarzem Haarmopp, „bei uns haben alle Platz: Anarchisten, Faschisten, Skinheads. Wir suchen, was vereint.“ Für eine „Antikapitalismus-Demo“ sind sie oft tagelang angereist. Rote Armbänder werden mit dem Parteiabzeichen – Hammer und Sichel auf weißem Kreis – verziert, Spruchbänder „Putin tritt ab“ gepinselt. Noch ahnt die bunte Truppe nicht, dass sie nach der Demo von Omon-Einheiten blutig zusammengeschlagen werden wird. Ein Regal stellt Limonows neue Bücher aus

sieben hat er in der Haft geschrieben, zwei sind bereits erschienen. Die verbotene Zeitung Limonka pflastert Tische und Wände, sie wird jetzt mit altem Logo unter dem neuen Titel Generallinie erscheinen. In den „Aprilthesen“ der Nummer 166 feiert Limonow, kurz vor seiner Verhaftung, die revolutionäre Tat von Lenin, Mussolini, Hitler bis zum Kaufhausbrand der RAF, auf der Titelseite der Nummer 203 bringt ein NBP-Aktivist unter den ermunternden Blicken Lenins und Stalins einem kleinen Jungen das Schießen bei.

Ein Verfahren wegen Ausweisung aus dem „Bunker“ läuft bereits. „Wenn man uns das Letzte nimmt“, sagt Limonows Stellvertreter Anatolij Tischin, ein im Leichenhaus jobbender Poet mit Halbglatze und traurigem Blick, „gehen wir, wie die RAF, in den Untergrund.“ Doch zunächst hofft man auf die offizielle Registrierung, die der 7000 Mitglieder zählenden Partei 1998 verweigert wurde. Der Weg ins Parlament war ihr damals versperrt, Koalitionen mit radikalen Parteien platzten, die ideologischen Köpfe, Künstler und Publizisten, desertierten. Die Chance, das Image der Konterkultur abzustreifen, sich gegen oligarchischen Kapitalismus und Restauration links zu positionieren, wurde vertan. Ohne ideologisches Rückgrat, mit irrationalem Aktionismus, schlingert die NBP durch den leeren Raum einer virtuellen Revolution.

Den gut bewachten Eingang des exklusiven Bürohauses der Jugendorganisation „Die Zusammengehenden“ unweit des Taganka-Platzes schmückt ein weißes Schaumstoffklo. Kürzlich hatte die präsidentennahe Bewegung in zwei Bussen Jugendliche und Rentner rangekarrt und unter Trauerfanfaren vor dem Bolschoitheater die Bücher Wladimir Sorokins in dem Riesenklo versenkt. An den „Klassiker der marginalen russischen Literatur“ erinnert eine schwarze Tafel mit goldenen Lettern. Ein junger Typ war bei der Aktion dabei: „Klar, dafür hab ich 300 Rubel gekriegt.“

Der Chef der „Zusammengehenden“, Wladimir Jakimenko, eine Mischung aus Komsomolzenführer und Geschäftsmann, empfängt in seinem Büro in Arbeitsuniform, einem roten T-Shirt mit schwarzem Putin-Kopf. An den Wänden leuchten Fotos von Zeltlagern, Jugendliche marschieren in optimistischen Kolonnen. Das Geld sprudelt für die Organisation, die nach eigenen Angaben 100 000 Mitglieder zählt. Städte und Bezirke spenden, Konzerne und Banken treten als Sponsoren auf. „Für Putin“ hieß geldgeberfreundlich die erste Aktion im Mai 2001, dann verhöhnte man nach den traditionellen Novemberfeierlichkeiten die Altkommunisten, fegte mit großem Besen symbolisch den Müll hinter ihnen zusammen. In diesem Februar steckte man Bücher von Pelewin und Jerofejew in Müllsäcke und tauschte sie gegen russische Klassiker, dann schoss man sich auf Wladimir Sorokin ein. Das Bolschoitheater hatte bei ihm ein Opernlibretto bestellt. „Wenn einer Goethe Schiller in den Arsch ficken lässt, lädt man ihn auch nicht nach Bayreuth ein“, sagt Jakimenko und spielt damit auf den Analverkehr zwischen Chruschtschow und Stalin in Sorokins Roman Himmelblauer Speck an. Ein Strafverfahren wegen „Verbreitung von Pornografie“ in dem drei Jahre alten Buch ist bereits eingeleitet, ständig laufen bei Miliz und Staatsanwalt neue Klagen gegen Sorokin und seinen Verleger ein.

„Die Gesellschaft“, sagt Jakimenko und wächst wie ein kleiner Napoleon hinter seinem Schreibtisch hervor, „ist noch nicht bereit für die Demokratie. Man muss ihr moralische Stützpfeiler liefern.“ Die sieht er vor allem in der Zweieinigkeit von Kirche und Staat. Neckische Tuschmännchen werben in einer Broschüre mit Reisen zu altrussischen Städten, vorrevolutionären Kaufmannssitzen und Heldenstädten

am Ende wird Putin zitiert: „Entweder wird Russland groß oder untergehen.“ Aus dem Radio tönt Gleb Pawlowskijs sonore Stimme. „Die kulturelle Elite ist moralisch diskreditiert“, verkündet Putins Imageberater, Chef des „Fonds der effektiven Politik“. „Schriftsteller und Poeten werden nicht mehr gebraucht. Der Präsident sucht jetzt den Dialog mit Naturwissenschaftlern und Unternehmern.“ Die Sache mit Sorokin, winkt Jakimenko ab, sei eh gelaufen. In der Nacht wird auf die Klo-Attrappe ein Sprengstoffanschlag verübt.

Was wird hier gespielt? Verstaubte Ideologeme werden modisch aufgemotzt und von cleveren Politstrategen auf den postmodernen Mediamarkt geworfen, die Nachfrage der Käufer wird durch zynisches Kalkül geschürt. Hatten in den neunziger Jahren Antikommunismus und westliche Liberalität Konjunktur, schwört man jetzt die Wähler auf Patriotismus und Nationalismus ein. Bei dem kulturpolitischen Showdown finden sich Politiker als Künstler und Künstler als Politiker in einer unfreiwillig-freiwilligen Allianz. Dabei wird auch der boomende Literaturmarkt neu aufgeteilt. Ein Autor wie Boris Akunin, der seine Leser konjunkturgerecht in die Plüschweltattrappen des alten Russland abtauchen lässt, scheffelt Millionen, die renommierte Bestsellerautorin Tatjana Tolstaja profitiert vom Kotau vorm Putin-Regime. Doch die Aktionen der Zusammengehenden haben auch den Konzeptualisten Sorokin, den früher nur Spezialisten kannten, vor die Kameras eines Massenpublikums gehievt.

Westliche Liberalität ist out, der Nationalismus marschiert

Ein gelber stalinistischer Klinkerbau am Leninskij Prospekt. Früher wohnte hier die Sowjetelite, jetzt kaufen sich die Neuen Russen ein. An der Tür steht, in Jeans und Shirt, Wladimir Sorokin Superstar. Sein Konterfei ziert allerorten die Magazintitel wie das eines Popstars

Auftritte in Talkshows und Foto-Shootings häufen sich, Himmelblauer Speck liegt in jedem Kiosk. Das Lifestyle-Blatt GQ hat ihn zusammen mit Putin als Kandidaten für den „Gentleman des Jahres“ aufgestellt. „Ach“, sagt Sorokin, „den ganzen Wirbel um die Zusammengehenden hab ich schon vergessen.“ Die Arbeit am Libretto habe ihn vom Medien-Fleischwolf abgelenkt. Ein Windhund, wie den Adelsporträts altrussischer Meister entsprungen, stürmt durch die Räume und küsst seinen Herrn, dann knickt er die zarten Glieder neben einem chinesischen Arzneischränkchen ein. Die Aktionen Wladimir Jakimenkos, „dieser Kleinbürgerausgabe Baldur von Schirachs“, der drohende Prozess, all die Vorladungen, Strafanträge, Expertisen seien nur die Agonie des sterbenden Körpers der sowjetischen Kultur, sagt Sorokin. Die Jugend verstehe allemal, dass die Literatur nichts als eine Droge sei.

Im Himmelblauen Speck materialisiert Sorokin seine Metapher von der Literatur als Junkie-Futter: Klone der russischen Klassiker gebären beim Schreiben den hellblauen Stoff, um den sich Hitler, Stalin und Chruschtschow, die Troika eines deutsch-russischen Großreichs, balgen. „Die kollektiven Menschheitsträume der Literatur“, sagt Sorokin, „sind lebendiger als Political Correctness und der gesunde Menschenverstand.“ Der jugendschöne 47-Jährige nimmt Platz an seinem Schreibtisch aus dem Nachlass eines Generals, neben sich einen Wotan-Speer. Sorokins literarische Parallelwelten, in letzter Zeit bewusst auf ein Massenpublikum zugeschnitten, zielen mit kaltem Kalkül auf Tabus, sie zerstören Geschichtslegenden und literarische Mythen und formen die obszönen Metaphern des Mainstreams zu provokanten Szenen. Der Volksmund sagt zu Chruschtschows Stalin-Demontage: „Chruschtschow hat Stalin durchgefickt“, bei Sorokin wird aus der Phrase ein seitenlanger Analverkehr, der zugleich auf die verdeckte Symbiose von Totalitarismus und Liberalismus verweist. „In Russland“, sagt Sorokin, „gibt es keinen Bezug zwischen Ideen und Dingen.“

„Ich bin jetzt Spezialist für Pornografie!“, ruft der Verleger

Ein Schlüsselsatz. Im orthodoxen Russland hatte der Marxismus immer auch transzendente Züge, der Kapitalismus war in den Neunzigern Utopieersatz.

Hinter all den Illusionen verblasste die Realität zur platonischen Schattenwelt, eine zu vernachlässigende, manipulierbare Größe. Gleichzeitig wussten die avancierten Geister immer schon, dass ihre schöne neue Welt nur aus Pappe ist. Jetzt benutzen sie die Ideenhülsen nur noch für virtuelle Spiele, hinter denen freilich konkrete merkantile und machtpolitische Interessen stehen. Die russische politische und kulturelle Szene ist wie eine Murmel, in der die strategisch-ideologischen Koalitionen in immer neuen Farbschlieren verlaufen

der schlichte Antagonismus von Westlern und Kommunisten gehört ins Museumsdepot. Da findet sich Limonow Zelle an Zelle mit dem ehemaligen Aeroflot-Direktor, einem Vasallen Boris Beresowskijs. Ihm, dem in Ungnade gefallenen, radikalliberalen Unternehmer, schickt die Limonka zarte Grüße ins Londoner Exil, während die liberale Intelligenzija für Limonow Bittgesuche schreibt. Sorokin, im Westen verhätschelt, wird von seinen einstigen liberalen Weggenossen zynischer Marktstrategien und des Nationalismus gescholten, weil er plötzlich wie ein Komet am Himmel des Putin-Regimes erscheint. Und Ad marginem, der Verlag von Limonow und Sorokin, veröffentlicht statt französischer Poststrukturalisten Alexander Prochanow, der einst dem sowjetischen Generalstab Dithyramben sang, mit den Putschisten gegen Jelzin kollaborierte und inzwischen mit seiner Zeitung Sawtra die nationalpatriotische Opposition anführt. Prochanows Politkrimi Herr Hexogen macht aus den Wohnhausexplosionen im Vorfeld des Tschetschenienkriegs und der Inthronisation Putins einen fantastisch-verbrecherischen Geheimdienstcoup.

„Herr Hexogen ist beste halluzinatorische Prosa, ein psychedelisches Delirium“, sagt Alexander Iwanow, Prochanows Verleger. In seinem Büro kämpft ein verstaubter Ventilator auf einem Buchstapel gegen den Rauch, zwischen Koffern und Kisten gluckst die Kaffeemaschine. Iwanow, der über den Theologen Pawel Florenskij promovierte, ist ein Aufsteiger aus Minsk. Der Sprung von der Philosophie zur radikalen Belletristik hat seinem Verlag Publicity und steigende Verkaufszahlen beschert. „Der Kapitalismus in Russland hat gesiegt, der Antikommunismus ausgespielt“, sagt er. „Jetzt ist die Zeit der großen Erzählungen.“ Gegen die postmodernen Dekonstruktionen, die die Literatur ins gesellschaftliche Abseits katapultierten, setzt sein Verlag ganz altmodisch auf Themen, die moralisch oder politisch provozieren. Die Werbekampagnen für Sorokin und Prochanow wurden von den Aktionen der Zusammengehenden aufgeheizt. „Ich bin jetzt ein Spezialist für Pornografie!“, ruft Iwanow nebenbei ins Telefon. Dass ein weiterer Ad-marginem-Autor, Bajan Schirjanow, wegen Propaganda für Pornografie und Drogen ebenfalls auflagensteigernd verklagt wurde, hat Iwanow sogar den Ruf der strategischen Allianz mit den Zusammengehenden eingetragen. Andererseits ist sein Verlag von Schließung bedroht, wurde die Gegenklage gegen die Zusammengehenden in zweiter Instanz abgeschmettert, fand gerade erst eine Hausdurchsuchung statt. Sitzen die Drahtzieher zu den Schriftstellerverfahren nicht vielleicht in der Präsidentenadministration, die mit den Geheimdienstknechten gerade eine sanfte Diktatur installieren? Iwanows Augen blitzen hinter der Nickelbrille: „Unwichtig. Die Handlungen sind irreal, aber sie bringen reale Gründe hervor.“ Der Verkauf von Sorokins Büchern ist ums Fünffache angestiegen, Herr Hexogen ist zum „Nationalen Bestseller“ gekürt. An der Tür von Iwanows Büro taucht Alexander Prochanow auf. „Ihr könnt mir gratulieren! Gegen Sawtra läuft jetzt auch eine Klage. Mit Sorokin und Limonow können wir den Schriftstellerverband der Verbrecher gründen. Das Justizministerium soll uns schon mal einen Sondergulag reservieren.“

Prochanows Zeitung hatte vor einiger Zeit das Protokoll eines Telefonats zwischen dem Liberalen Nemzow und einem weißrussischen Oppositionellen veröffentlicht, in dem sie den Sturz des weißrussischen Führers Lukaschenko diskutierten – und so die von den Patrioten ersehnte Union mit Weißrussland torpediert. Gerade hat Prochanow seinen neuesten Coup gelandet: ein Interview mit dem einstigen Erzfeind Beresowskij. Der entthronte Multimilliardär zeigt sich da im Büßergewand als Christ und sozialer Patriot, der schwer an früheren Verfehlungen, der Hexenjagd auf die Kommunisten und der Inthronisation des Geheimdienstlers Putin trägt. Das Ziel des Publizisten Prochanow: eine das Putin-Regime sprengende Allianz von Radikalliberalen, Nationalisten und Altkommunisten. Doch bislang hat das Interview im Vorwahlkampf nur die Opposition gespalten und Putins Macht zementiert. „Der Sternenhimmel ist in uns“, sagt Iwanow und hebt die Teetasse. „Man muss sich verändern, um bei sich zu bleiben. Auf die Illusion! Sie ist realer als die Wirklichkeit.“

Am 18. Oktober diskutieren Sorokin, sein Verleger Iwanow und Durs Grünbein im Hamburger Schauspielhaus über „Schriftsteller und Macht“