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Russland ist nur eine böse Parodie
Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Viktor Pelewin über Terror in Moskau, virtuelle Politik und russische Mythen
Von Barbara Lehmann
4. November 1999 Quelle: DIE ZEIT, 45/1999
die zeit: Sie waren zwei Monate in Deutschland, als Gast des Literarischen Colloquiums Berlin und auf Lesereise. Sie sehen erschöpft aus. Wie hat’s Ihnen unterwegs gefallen?
Viktor Pelewin: Na wie schon? Lesereisen sind ein unausweichliches Übel. Ich bin eigentlich hergekommen, um ein Buch zu schreiben. Ein neuer Ort ist immer eine Energiequelle.
zeit: Welche Energien spüren Sie in Berlin?
Pelewin: Hier ist es sehr ruhig, sehr raffiniert. Am besten hat mir das „Zimmer des Schweigens“ am Brandenburger Tor gefallen. Ich hab erst nicht verstanden, wozu man es braucht. Ich bin reingegangen, hab mich hingesetzt und geschwiegen. Ich saß dort so lange, bis ich’s verstanden hab, sicher drei Stunden lang!
zeit: Ihr neuer Roman Generation P gehörte in diesem Sommer zum Handgepäck aller Moskauer Passanten. Im Mittelpunkt steht ein junger russischer Dichter, der im wildwestkapitalistischen Russland der neunziger Jahre zum Werbetexter mutiert. Politiker sind hier nur noch Reißbrettentwürfe der Werbestrategen, virtuelle Produkte der Computeranimation.
Pelewin: Ich wollte zeigen, dass in unserer Zeit Images existieren, die keine Originale haben. So sind auch die meisten Schriftsteller in Russland derzeit nicht mit der Herstellung von Texten beschäftigt, sondern mit der Herstellung ihres Images. Man macht den Fernseher an und sieht eine Visage, unter der steht: „Schriftsteller“. Diese Visage erscheint jeden zweiten Tag auf dem Bildschirm. Die Bücher dieses „Schriftstellers“ hat keiner gelesen.
zeit: Sie haben fast eine Million Bücher verkauft. Verdankt sich Ihr Erfolg nicht auch einer Strategie, dem Image des angry young man?
Pelewin: Ich weiß nicht, was Sie Erfolg nennen. Selbst wenn ich in die dunkelsten Winkel meines Verstandes hineinleuchte, spüre ich ihn nicht. Aber ich kann sagen, was ich für eine Strategie habe – ich habe keinerlei Kontakte zur literarischen Welt. Ich muss nicht meinen Arsch präsentieren, um mich zu verkaufen. Wenn ich der Menschheit einen neuen Gedanken mitteilen will, kann ich ihn ja niederschreiben. Die schlimmsten Imageproduzenten sind ohnehin die Politiker. Haben Sie nicht auch den Eindruck, dass Sie, wenn Sie wählen gehen, nicht Personen Ihre Stimme geben, sondern einer Fernsehsendung?
zeit: Nach den letzten Präsidentschaftswahlen haben Sie daraus mit einer Computerfirma ein Projekt gemacht: Ein virtueller Kandidat wurde im Fernsehen vorgestellt.
Pelewin: Wir haben aus den Gesichtern von sechs echten Präsidentschaftskandidaten im Computer ein Gesicht geformt. Dabei haben wir berücksichtigt, wie viele Stimmen jeder bei der Wahl bekommen hat. Der Computer errechnete aus den Gesichtszügen und dem Stimmenanteil einen statistischen Mittelwert. Es kam eine schreckliche Fratze raus! Und das Lustige war: Schon ein geringer Prozentsatz des Generals Lebed hatte äußerst starke Auswirkungen auf das Resultat.
zeit: Springen wir von der Realsatire zur Wirklichkeit: Wer hat derzeit die Macht in Russland?
Pelewin: Eine schwierige Frage. Die Sache ist die, dass wir es nicht mit Menschen zu tun haben, sondern, wie es in meinem letzten Buch heißt, mit „Impulsen und Faktoren“. Die Macht hat keinen klar ausgeprägten Träger, sie ist etwas Amorphes, etwas, in das man nicht den Finger reinstecken kann. Leider neigt der russische Verstand dazu, konspirative Welterklärungsmodelle zu erschaffen. Doch daran, was derzeit bei uns passiert, sind vor allem wir selbst schuld. Bei uns lieben ja viele, die Schuldigen weit hinter den sieben Bergen im bösen Westen zu suchen. Aber das ist Blödsinn.
zeit: Ihr Staat befindet sich in einem bürgerkriegsähnlichen Zustand: Die Armee bombardiert Tschetschenien, in Moskau werden Wohnhäuser gesprengt. Wie sehen Sie angesichts der russischen Politik diese Art von Terrorismus?
Pelewin: Wie alle normalen Menschen, mit Entsetzen! Mit was sonst? Ich begreife nicht das Kalkül, das hinter den Explosionen steht, ich begreife nicht die Menschen, die das tun. Vielleicht kriegen sie ja Geld dafür, dass sie Häuser in die Luft sprengen und bei einer Detonation 300 Menschen sterben. Ich weiß nicht, wie sie danach leben werden. Das übersteigt die Grenzen meines Verstands.
zeit: Ist das nicht die logische Konsequenz einer fehlerhaften Politik?
Pelewin: Manche Leute halten es für die logische Konsequenz einer unklugen Politik, andere für die logische Folge einer sehr klugen.
zeit: Da wären wir wieder bei den Verschwörungstheorien: Jelzin wollte an der Macht bleiben und deshalb …
Pelewin: Ich will nicht glauben, dass Menschen zu so einer Gemeinheit fähig sind. Es wäre schrecklich, in so einer Welt zu leben.
zeit: In Ihrem ersten Buch Omon hinterm Mond werden Jungen für die bemannte Raumfahrt gedrillt und verkrüppelt. Es ist auch eine Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Mythos von der Eroberung des Weltraums. Sind Sie mit ihm aufgewachsen?
Pelewin: Ich bin nicht mit den sowjetischen Mythen aufgewachsen, sondern unter ihnen, verstehen Sie? Die sowjetischen Mythen sind niemals ein edler Rohstoff oder ein fruchtbares Umfeld gewesen. Im Gegenteil, sie haben eine destruktive Natur. Ich habe nie an einen einzigen sowjetischen Mythos geglaubt, kaum jemand hat das getan.
zeit: Davonfliegen in eine andere Welt – hat das nicht auch eine positive Seite?
Pelewin: Was heißt das schon: „Wegfliegen aus dieser Welt in eine andere“! All diese Welten befinden sich direkt hier, wo wir gerade sitzen. Um dorthin zu geraten, muss man nicht fliegen. Ein buddhistischer Text, das „Avatamsaka-Sutra“, verkündet, dass die Welt ausschließlich vom Verstand erschaffen wird. Jeder Übergang von einem Raum in den anderen ist vor allem ein psychischer Akt.
zeit: Wie haben Sie die kollektive Erziehung erlebt, die Pionierlager, den Schuldrill?
Pelewin: Der Begriff des Kollektivs ist mir zutiefst verhasst. Ich habe mich nie im Kollektiv verwirklichen wollen.
zeit: Mir scheint, hinter dem vom Staat verordneten Kollektivismus verbarg sich nackter Egoismus. Man braucht sich ja bloß die Bereicherungspolitik des Jelzin-Clans anzusehen …
Pelewin: Ja, ja, ja. Sie haben Recht, natürlich. Überhaupt, unsere ganze Privatisierung – das ist einfach der Übergang des Eigentums in die Hände der früheren Parteibosse. Wissen Sie, warum man den Leuten die Wohnungen überlassen hat? Damit die Leute, die auf den riesigen Parteidatschen hockten, diese an sich reißen konnten. Das Experiment, ins menschliche Gehirn hinein die menschliche Seele zu pflanzen, also dieses ideologische Modell aus den dreißiger und vierziger Jahren – das war wie der Versuch, Stiefel überzuziehen, die drei Nummern zu klein sind. Überhaupt scheint mir die eigentliche Organisationsform der Menschen in Russland die Schlange zu sein. Hier, im Westen, ist es die Familie, in Russland die Schlange.
zeit: Aber Sie hatten doch eine Familie.
Pelewin: Mein Vater ist vor kurzem gestorben. Er war Offizier. Meine Mutter lebt noch, Gott sei Dank. Wir waren eine gewöhnliche sowjetische Familie. Ich kann Ihnen also kein wertvolles psychoanalytisches Material bieten.
zeit: Auch keine Kindheitstraumata? Man hat Sie nicht geschlagen, Sie sind auch nicht in eine Klärgrube gefallen …?
Pelewin: Nein, und ich habe meine Eltern auch nicht heimlich beim Beischlaf beobachtet. Und was heißt schon Trauma? Das schlimmste Trauma, das der Mensch haben kann, ist das Trauma der Geburt.
zeit: Erinnern Sie sich daran?
Pelewin: Klar, im Vergleich dazu verblasst alles. Übrigens, die Wiederholung des Geburtstraumas – das passiert im Moment den meisten Russen. Der Prozess der Geburt aus der sozialistischen Gebärmutter verläuft dabei in vier pränatalen Etappen: Die erste ist die Einheit mit dem Weltall, der Zustand einer kollektiven Gemeinschaftlichkeit. In der zweiten zieht sich die Gebärmutter zusammen, und die Geburt beginnt: Das ist die späte sowjetische Fäulnis. Dann der Geburtsprozess – das ist die Perestrojka, die Reform, all das, was wir im Moment erleben. Doch die Geburt verläuft sehr schlecht: An den Kopf werden Zangen angelegt, aber man hat das Gefühl, bloß um den Kopf zu zerdrücken. Reicht’s mit der Psychoanalyse?
zeit: Und was ist in der vierten Etappe los?
Pelewin: Was schon? Die dialektische Wiederholung der ersten. Der Prozess der wonnigen Einheit mit dem blühenden Westen.
zeit: Machen wir weiter mit der Analyse Ihrer Kindheit. Haben Sie schon als Kind geschrieben?
Pelewin: Nein. Ich habe spät zu schreiben angefangen, mit 25, 26. In der Schule hab ich für meine Aufsätze nie eine bessere Note als Drei bekommen. Ich habe zwar sehr gut begriffen, was man von mir wollte, und versucht, das zu imitieren. Aber man hat mir die ganze Zeit gesagt: „Das ist nicht gut, du legst dein Herz nicht rein.“ Die sowjetische Ausbildung im humanitären Bereich erinnert mich an den Versuch, am lebenden Körper eine Prothese anzupassen. Die ganze technische Ausbildung war noch einigermaßen erträglich.
zeit: Aber Sie haben doch Literatur studiert!
Pelewin: Nein, das war später. Vorher war ich Doktorand am Moskauer Energetischen Institut. Schrecklich, sich mit dieser ganzen Elektrizität zu beschäftigen! In der Sowjetunion hat das Leben die Menschen durcheinander gemischt wie ein Kartenspiel – keiner hat verstanden, warum er das tat, was er tat. Ins Literaturinstitut bin ich eingetreten, da hatte schon die Perestrojka begonnen. Natürlich wird einem dort nichts beigebracht, wir haben in diesen drei Jahren hauptsächlich getrunken. Dann bin ich einfach weggegangen, weil ich bereits mehr Erfolg hatte als meine Lehrer. Und weil ich zum fünften Mal in marxistisch-leninistischer Philosophie geprüft werden sollte. Ich dachte, danach erscheint auf meiner Stirn bestimmt ein roter Stern! Außerdem: Wäre ich dort noch zwei Jahre länger geblieben, wäre ich mit einer Leberzirrhose geendet.
zeit: Aber jetzt ist die marxistisch-leninistische Philosophie endgültig hin, und die Grenzen zwischen West und Ost verschwimmen.
Pelewin: In Russland tritt grob, offen und abstoßend hervor, was im Westen immer noch abgeschwächt und versteckt ist, weil es hier noch eine gewisse Kultur und innere moralische Werte gibt. Russland ist eine böse, ungerechte Parodie auf den Westen.
zeit: Ihre Bücher sind halluzinatorische Traum- und Drogenreisen. Verarbeiten Sie Ihre Träume manchmal in Ihren Werken?
Pelewin: Nicht in direkter Gestalt. Der Traum ist ein sehr interessanter Zustand. Für mich gibt es keinen Unterschied zwischen Realität und Traum! Das, was wir Realität nennen, ist einfach ein Traum, der eine bestimmte Dauer und Abfolge hat. Es ist der Traum, den Sie von acht Uhr morgens bis elf Uhr abends träumen. Wenn Sie sterben, wird der Unterschied zwischen Realität und Traum endgültig verwischt.
zeit: Ich kann mir das schwer vorstellen …
Pelewin: Sie sollen sich das auch nicht vorstellen. Sie sollen den Verstand außen vor lassen. Das Unglück des Menschen heute besteht darin, dass er alle Funktionen mit dem Verstand ersetzen will, dabei sind seine Möglichkeiten sehr begrenzt. Das ist so, als wenn Sie ein Mikroskop haben und versuchen, damit absolut alles zu machen – den Boden zu wischen, die Spüle zu reinigen oder es als Hundeleine zu verwenden. Der Verstand taugt nichts in der Kunst.
zeit: Wenn Sie in einem weniger repressiven Staat als der Sowjetunion aufgewachsen wären – hätten Sie sich dann vielleicht besser mit der so genannten realen Welt abfinden können?
Pelewin: Die Gefängnisse unterscheiden sich nur darin, ob vor ihrem Fenster ein rostiges oder ein vergoldetes Gitter hängt. Der Mensch befindet sich im Gefängnis, und das Gefängnis ist ein Sack mit Knochen und Kot. Der einzige Unterschied ist: Die einen begreifen, dass sie im Gefängnis sitzen, und die anderen nicht. Schauen Sie, Sie werden geboren – die Sanduhr wird umgedreht, und der Sand rieselt nach unten. Nach Ihrem Tod ist es völlig egal, wo und wie Sie gelebt haben.
Die Fragen stellte Barbara Lehmann