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Wie ein blutiges Wiegenlied
Der Menschenrechtler Sergej Kowaljow über die verdeckten Motive des russischen Feldzugs gegen Tschetschenien und die Mitschuld des Westens
Von Barbara Lehmann
22. Dezember 1999 Quelle: DIE ZEIT, 52/1999
die zeit: Sergej Adamowitsch, Sie gelten als der „Sacharow von Grosnyj“.
Sie halfen mit, den ersten Tschetschenien-Krieg zu beenden. Jetzt, im zweiten Krieg der Russen gegen Tschetschenien, ist Ihre Stimme gegen die Hasschöre der Kriegshetzer nicht zu hören. Was hat sich verändert?
Sergej Kowaljow: Unsereins gelangt gar nicht mehr auf die Seiten der Presse.
Die Unabhängige Zeitung hat neulich zwei große Artikel in Sowjetmanier publiziert: „Es gibt die Schlangenbrut des Westens, früher hießen sie Dissidenten, jetzt Menschenrechtler.“ Im Unterschied zum ersten Tschetschenien-Krieg hat unsere Armee eine strenge Militärzensur eingeführt.
Der Journalist Walerij Jakow sagte mir: „In die befreiten tschetschenischen Gebiete lässt man uns nur in Begleitung eines militärischen Führers. Die Generäle kontrollieren, dass keiner entwischt und selbst nachforscht.“
zeit: Zu Beginn des ersten Tschetschenien-Krieges haben Sie sich kurz entschlossen einen Hubschrauber gechartert und sind ins brennende Grosnyj geflogen. Wie kommen Sie jetzt nach Tschetschenien?
Kowaljow: Wer gibt mir noch einen Hubschrauber? Ich bin nicht mehr offizieller Menschenrechtsbeauftragter. Früher sind wir bis Mineralnye Wody geflogen, dann hat uns die Verwaltung Inguschetiens von Nasran nach Tschetschenien gebracht. Jetzt kann man nach Tschetschenien nur über Georgien gelangen. Dann geht’s zu Fuß weiter: 40 Kilometer ohne Übernachtung über tief verschneite Gebirgspässe! Dafür bin ich zu alt. Aber ich hoffe, jetzt nach den Wahlen ins Grenzgebiet zu gelangen.
zeit: Die Kriegshetze hat im Wahlkampf die russische Nation geeint. Haben die Russen den Hass auf den „bösen Tschetschenen“ bereits mit der Muttermilch aufgesogen?
Kowaljow: Ja, ja, bajuschki baju …, Lermontows Kosakisches Wiegenlied. Und dann die Zeile: „Der Tschetschene schleicht am Strande, schleift sein Messer gut …“ Aber diesen Hass aus den Kriegen des letzten Jahrhunderts gibt es nicht mehr. Die Sache ist tiefer und komplizierter. Im Bewusstsein des russischen Volkes wurzelt traditionell Misstrauen gegenüber dem Fremden. Ein biologischer Atavismus wie jede Xenophobie. Teilweise ist das auch ein Resultat der so genannten patriotischen Erziehung. Bis zum ersten Krieg gegen Grosnyj gab es keinen Hass auf die Tschetschenen. Jetzt befürworten 60 Prozent aller Russen den Krieg.
zeit: Ist dies nicht eine beispiellose Brutalisierung der russischen Gesellschaft?
Kowaljow: Das sind Phrasen. Die Macht manipuliert das gesellschaftliche Bewusstsein. Und dafür gab es exzellente Bedingungen: die Vorstöße der tschetschenischen Kämpfer in Dagestan, den Menschenhandel mit Geiseln, die Wohnhäuserexplosionen. Der Normalbürger neigt ohnehin dazu, all das mit Tschetschenien zu verbinden. Und dann erzählt man ihm jeden Tag im Fernsehen, dass das ein Territorium voller Banditen ist, wo gegen Russland Kriminalität und Barbarentum gedeihen.
zeit: Gerüchteweise heißt es nun, auch russische Geheimdienstler könnten im Auftrag des Staates für die Bombenanschläge auf Wohnhäuser verantwortlich sein. Halten Sie das für realistisch?
Kowaljow: Zunächst habe ich gesagt: „Ich mag nicht dran glauben, es ist zu fürchterlich.“ Inzwischen halte ich diese Version doch zu einem Drittel für wahrscheinlich. Denn wer benutzt die Explosionen mit Verve? Der promoskauer, antitschetschenische Hurrapatriotismus! Keiner interessiert sich für Beweise.
Jetzt sind angeblich Indizien aufgetaucht, dass die Sprengsätze von Osama bin Laden stammen. Mich wundert nur, wie einige Tonnen Sprengstoff möglicherweise aus Saudi-Arabien über Afghanistan und weitere Grenzen nach Russland geschafft werden konnten. Wenn es tatsächlich Geheimagenten waren, sind die Ausführenden am ehesten Kaukasier gewesen.
zeit: Wenn der „Kampf mit den tschetschenischen Banditen“ nur ein Vorwand ist – was ist das wirkliche Kriegsziel?
Kowaljow: Tschetschenien wieder unter Moskaus Kontrolle zu bringen. Es ist die alte imperiale Sowjetstrategie: Der erste Krieg ist verloren, jetzt suchen wir Revanche. Dort wird ein Vernichtungskrieg geführt. Man behauptet, „Ansammlungen von Kämpfern in Wohnvierteln“ zu bombardieren. Im ersten Tschetschenien-Krieg bin ich dutzendmal unter Beschuss geraten. Es gibt keine Ansammlungen von Kämpfern in Wohngebieten, aber Ansammlungen von Zivilpersonen. Denken Sie an die Märkte: Hunderte Tote beim Sonntagsbasar in Schali. Der Markt von Grosnyj wurde mit dem Raketensystem Grad beschossen.
Das sind keine Präzisionswaffen, sondern Flächenwaffen, die den ganzen Platz durchsieben. Eben „Krieg bis zum letzten Tschetschenen“.
zeit: Sie sind in den letzten Jahren monatelang in Tschetschenien gewesen.
Wie war dort die Situation vor dem Krieg?
Kowaljow: Tatsächlich hat es in Tschetschenien barbarische Vorfälle gegeben.
Die Zahl der Geiseln, die man für Geld verkauft hat, ging in die Tausende
übrigens waren 90 Prozent der Geiseln Tschetschenen. Ich bin absolut überzeugt, dass weder Maschadow noch andere einflussreiche tschetschenische Politiker diese blutigen Geschäfte billigten. Auch die Mehrheit der Bevölkerung war gegen den Menschenhandel. Doch leider hat das tschetschenische Volk zwar fantastische Soldaten, die Schmerz und Tod verachten, hervorgebracht, doch keine staatsbürgerliche Tapferkeit. Es ist schuld an dem, was passiert, ebenso wie die Russen verantwortlich für die Sowjetmacht waren.
zeit: Was waren denn die Folgen des ersten Tschetschenien-Krieges?
Kowaljow: Ein Kriegsziel Russlands war es, den islamischen Fundamentalismus zu bekämpfen. Nur dass es vor dem Krieg keinen Fundamentalismus gab. Der tschetschenische Islam war immer sehr tolerant, gelassen, sogar fröhlich.
Jetzt haben wir den Islam pur.
zeit: Ist dafür nicht auch der Tschetschenen-Führer Maschadow verantwortlich?
Kowaljow: Maschadow persönlich ist, oder war jedenfalls, Anhänger eines aufgeklärten Rechtsstaats, auch wenn er ihn nicht wie wir verstand. Er hatte eine idée fixe: keinen Bürgerkrieg in Tschetschenien zuzulassen. Dafür bezahlte er mit der Scharia, das heißt öffentlichen Hinrichtungen und endlosen Scharmützeln zwischen Halbkriegern und Halbbanditen, die sich einbildeten, politische Führer zu sein. Maschadow hat die ganze Zeit ihre Händel geschlichtet. Zum Dank haben sich alle gegen ihn verbündet.
zeit: Wie soll sich der Westen gegenüber der tschetschenischen Führung verhalten?
Kowaljow: Auch der Westen ist schuld am Krieg. Er hat diesen explosiven Flecken Russlands einfach vergessen. Der Westen sollte darauf dringen, dass alle Geiseln freikommen, die Schuldigen im Menschenhandel bestraft werden und eine zivilisierte Rechtsstaatlichkeit entsteht. Das würde die Position des Westens und Maschadows Autorität stärken und Russland die Argumente gegen die Internationalisierung des Konflikts nehmen.
zeit: Und welche Strategie sollten die westlichen Staatenführer gegenüber Russland verfolgen?
Kowaljow: Sacharow hat gesagt: „Mein Land braucht Unterstützung und Druck.“
Weder das eine noch das andere hat es vom Westen ernsthaft gegeben. Schon Kohl oder Clinton hätten den ersten Krieg stoppen können, wenn sie bei jedem öffentlichen Auftritt deutliche Worte zu Tschetschenien gesagt hätten. Zudem ist Russland Mitglied des Europarats. Wo ist dessen Antifolterkomitee? Es kann jeden Mitgliedstaat ohne Vorwarnung inspizieren.
zeit: Im letzten Krieg gab es so genannte Filtrationslager. Konnten Sie die besuchen?
Kowaljow: Ja. Damals hatte ich noch alle Vollmachten. Dort wurden systematisch Folterungen von speziell ausgebildetem Personal organisiert, beispielsweise mit Elektroschocks. Die Spuren der Foltern habe ich bei meinen Besuchen in diesen Lagern selbst gesehen. Hunderte sind dabei umgekommen.
Viele wurden in Massengräbern verscharrt.
zeit: Hat die russische Regierung die Kriegsverbrechen verfolgt?
Kowaljow: Nie. Ich bin überzeugt, dass die Initiatoren auf Generalsebene zu suchen sind. Kein Militärgericht hat sich je dafür interessiert.
zeit: Gibt es diese Lager auch jetzt?
Kowaljow: Darüber wird nicht berichtet. Damals gab es die Lager trotz unserer Überwachung, jetzt haben sie erst recht freie Hand. Aber Beweise habe ich keine.
zeit: Wer profitiert vor allem von diesem Vernichtungskrieg?
Kowaljow: Die Hurrapatrioten von „Vaterland-Allrussland“ bis zur „Einheit“.
Die sind an einer eisernen Ordnung interessiert. Unter ihnen – Primakow, Lushkow und seine Truppe – gibt es viele Zyniker, die der Sowjetmacht keineswegs nachtrauern. Sie profitieren bloß von einer politischen Situation, bei der man ungestraft dicke Geschäfte machen kann. Unsere Propaganda sagt, in den letzten Jahren seien die Demokraten an die Macht gekommen. Doch die ökonomische Reform von Gajdar ist im ersten Drittel gebremst worden, und die politische Reform hat erst gar nicht begonnen.
zeit: Braucht Russland einen Marshallplan?
Kowaljow: Sie in Deutschland hatten Glück: Sie wurden okkupiert. Ein Marshallplan mit harten Bedingungen, wobei der Westen eine vernünftige Verteilung von Geldern, Mitteln und Ausrüstung streng kontrolliert, könnte zu einem neuen politischen Denken in Russland führen. Aber das macht keiner im Westen. Stattdessen sucht man Übereinkunft mit den Machthabern und Stabilität. Jetzt heißt die neue Staatsdoktrin: Disziplin in der Politik und Marktwirtschaft. Selbst für Tschubajs, Gajdar und andere Liberale gilt weiter das marxistische Dogma von Basis und Überbau. Die Wirtschaft ist die Basis.
Der Überbau ist alles andere: Recht, Wissenschaft, Religion und Kultur. Ich sehe es anders: Die Wirtschaft entwickelt sich nur bei politischer Freiheit und liberalen Werten.
Das Gespräch führte Barbara Lehmann