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Tschetschenien, Anfang Mai

Momentaufnahme aus einem Krieg an Europas Peripherie

Von Barbara Lehmann
13. Mai 2004 Quelle: DIE ZEIT, 21/2004

Grosny, in den Tagen davor: ein Stadtgespenst, eine apokalyptische Filmkulisse aus Ruinenstümpfen und Häuserskeletten inmitten endloser Wiesen. Das Leben hat sich nach draußen verlagert, in die Basare, die das in Lehm und Staub versinkende Stadtphantom wie ein Spinnennetz überziehen. Bei Einbruch der Dunkelheit kehrt schlagartig Stille ein: Dann durchkämmen Patrouillen die von Leuchtfeuern erhellte Landschaft. Auf den Plakaten beschwört Putins Statthalter Kadirow die Einheit mit Russland. Am Sonntag wurde er bei einem Attentat getötet.

Ein Menschenleben, sagen die Freunde in den Tagen vor dem Attentat, zählt hier nicht mehr als das einer Ameise. Man liege im Bett, nachts, und horche in die Stille, vielleicht nähert sich ein Fahrzeug, vielleicht bin ich der Nächste. Auf jeden Einwohner kommt ein Soldat. Wir sind wie Tote, sagen die Freunde, wie Gespenster. Karriere, Wohlstand – all das sind Vokabeln aus einer anderen Epoche. Wir leben in der Zeitlosigkeit, im Schwebezustand des Wartens. Und auch das Kadirow-Regime wisse, dass es nur auf Zeit existiere.

So blinken in Grosny allein die Ministerien mit neuen pastellfarbenen Fassaden, frivole Kulissen zwischen den Trümmern. Seit fünf Jahren fließt kein Wasser aus den Hähnen, die Telefonleitungen werden nicht repariert, sie könnten ja konspirativen Zwecken dienen. Und da Grosnys Fabriken zerstört sind, gibt es auch keine Arbeit. Das Schlimmste ist, sagen die Freunde, wenn man kapiert, dass die Besten nicht mehr da sind, gefallen, getötet, verschwunden. In der letzten Zeit nehmen sie sogar die Kinder mit. Wie viele umgekommen sind, weiß keiner, manche schätzen, es seien 200 000. Ihr könnt gut reden, sagen die Freunde, von Pazifismus und diplomatischen Verhandlungen. Wir aber sterben aus, vielleicht gibt es gerade mal noch 500 000 Tschetschenen. Auf sieben Frauen kommt ein Mann.

Die Frühlingssonne leuchtet die Hausstümpfe grell aus, in den Dächern und Obergeschossen klaffen metergroße Löcher, doch an den Balkonen der Wohnungen darunter baumeln weiße Laken. Jetzt, in den Tagen vor dem Attentat, tritt der Partisanenkrieg in seine heiße Phase. Sogar die russischen Nachrichten sprechen inzwischen von Opfern. Die Kämpfe in den Bergen haben das Dorf erreicht, in dem sich Kadirow mit der von seinem Sohn Ramsan befehligten Privatarmee verschanzt hat. Auch Maschadow, für die meisten hier noch immer der wirkliche Präsident, soll unter den dort kämpfenden Partisanen sein.

Leider, so die Freunde, reiche die Kraft für eine Großoffensive wohl nicht mehr aus. Doch wenn Maschadows Truppen wieder in die Stadt einziehen würden, wären alle auf ihrer Seite. Ohne die Unterstützung der Bevölkerung wäre der Partisanenkrieg nicht möglich. Zudem liefere sich die Jugend, radikalisiert und verzweifelt, den Widerstandskämpfern als Nachschub aus.

Und Kadirows Hausmacht? Ach, sagen die Freunde, die sei ja doch nur ein heterogener Haufen, Expartisanen, geködert mit dem Versprechen auf eine Amnestie, doch viele von ihnen sännen weiterhin nur auf Rache an den Russen, auch an den eigenen abtrünnigen Landsleuten. Auch die Kollaborateure in Miliz und Verwaltung seien ein wetterwendischer Verein, verführt von der Aussicht auf Lohn und Brot und Macht, Abenteurer und Glücksritter seien sie. Wenn Kadirow fällt, sagen die Freunde in Grosny am Vorabend des Attentats, wird dieses ganze elende Übergangsregime wie eine Luftblase zerplatzen.