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Wo die Liebe eisiger ist als der Tod

Theaterwunder aus dem Osten – die atemberaubenden Visionen des ukrainischen Regisseurs Andrij Zholdak

Von Barbara Lehmann
5. Februar 2004 Quelle: (c) DIE ZEIT 05.02.2004 Nr.7

Menschen pappen wie Trophäen an den Wänden. Sie betreten Räume durch Türen, die in den Himmel gewandert sind, schweben vor festlichen Tafeln, auf die man wie aus der Vogelperspektive schaut. Sie ragen als Riesen hoch oder bohren sich, zerstückelt, amputiert, durch Wände. Sie reden wie selbstverständlich mit den Tieren oder mutieren selbst zu Insekten, Fabelwesen. Gegenstände entwickeln Eigenleben, Tische wandeln sich zur Arche Noah, werden zu Betten und Katafalken. Telefone verschwinden durch Wände und werden wenig später zu Mordinstrumenten. Bildwelten jenseits der herkömmlichen Vorstellungen von Raum und Zeit. Blitzlichter der Erinnerung, ein Kaleidoskop von Kinderfantasien, auf den Kopf gestellt. Andrij Zholdaks Turgenjew-Adaption Ein Monat der Liebe ist magisches Kino auf dem Theater.

„Für mich“, sagt der Regisseur, „ist das Territorium der Träume, der verborgenen Wünsche, Visionen und Gedanken interessanter als die Wirklichkeit. Also unser zweites Leben, das vielleicht auch unser erstes ist. Theater – das sind Illusionen, das ist Künstlichkeit, das ist die Droge einer anderen Welt.“

Das Theaterwunder in Charkiw begann vor einem Jahr. „Gebt mir ein Theater in der Provinz“, hatte der seit Jahren als Gastregisseur durch die Ukraine, Russland und Rumänien tingelnde 42-Jährige in einem Interview gesagt. Seine Ausbildung hat er bei so unterschiedlichen Lehrern wie dem Moskauer Theaterguru Anatolij Wassiljew, dem polnischen Filmemacher Zanussi oder dem Kinorebellen Sergej Paradschanow absolviert, der als sowjetischer Staatsfeind jahrelang weggeschlossen wurde. Eine Woche nach dem Interview bot der Gouverneur von Charkiw Zholdak die Leitung des Schewtschenko-Theaters an. Ein ganz normales postsowjetisches Repertoiretheaters mit 200 Mitarbeitern, eines von sechs im Verbund der Charkiwer Opern- und Schauspielhäuser, ein winziges Glied nur in der Kette der 350 ukrainischen Stadttheater. In den Jahren von 1925 bis 1933 hatte es unter Lew Kurbas eine kurze Glanzzeit. Doch nach dessen Erschießung schien über dem Theater ein Fluch zu hängen: Ständig wechselten die Regisseure, in letzter Zeit schlug man sich vor allem mit leichter Unterhaltung durch. Doch in den Körpern und Seelen der Schauspieler sitzt noch immer der Geist der Kurbas-Zeit. Willig unterwarfen sie sich Zholdaks zweiwöchigem Trainingsmarathon. Als hünenhafter Wiedergänger Antonin Artauds trieb er sie durch Schauspieler-routine vernichtende Exerzitien: an Stühle gefesselt, mit verbundenen Augen und verstopften Ohren, ohne den Halteanker des Textes, ausgehungert, ausgedörrt. Dann wurde die Truppe aufgeteilt: Die eine Hälfte, kahl geschoren, nackt, näherte sich nachts, eingepfercht in einen zellenartigen Proberaum, Solschenizyns legendärer Lagererzählung Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch. Der andere Teil, veredelt zu kostbar gewandeten Jugendstilgestalten, probte tagsüber auf der großen Bühne Ein Monat der Liebe .

Die vierstündige szenische Fantasie nach Turgenjews Fünfakter Ein Monat auf dem Lande kreist um eine simple Dreiecksgeschichte: Eine Gutsbesitzerin und ihr armes Mündel verfallen einem Studenten. Zholdak skelettiert das geschwätzige Stück auf seine verborgenen Motive, legt die hinter verlogen auftrumpfenden Wortkaskaden verborgene Partitur der Gefühle frei und überträgt sie in schockierende, berauschend schöne Bilder. Dazu hämmert Musik, dröhnen über Lautsprecher die raren Worte. Die Inszenierung ist wie ein Fluss, der sich in mäandernden Bewegungen mal von der Liebesgeschichte entfernt, mal sich ihr wieder annähert. Kurze szenische Halluzinationen, filmische tableaux vivants, zwischen denen sich, wie eine Blende, immer wieder kurz das Dunkel schließt.

Welttheater im östlichen Grenzland der Ukraine. Charkiw: Dunkelheit, Schlaglöcher, Kriminalität. Der riesige konstruktivistische Betonquader der Gasprom im Zentrum der Zweimillionenstadt wird von grauen Nebelschwaden verschluckt. Die Schwerindustrie hat über die Stadt eine undurchdringliche Schicht von Dreck und Asche gelegt. In Zholdaks Theater beginnt alles Schreckliche mit dem Schönen. Die Liebe ist eisiger als der Tod. Alle in der streng hierarchischen Turgenjew-Zholdak-Society sind gierig und geil. Sie lecken die Teller ab, als sei es ihr letztes Mahl, sie reiben sich ständig ihr Fleisch, weil die innere Kälte sie sonst gefrieren lässt. Sie schreien sich an, fallen übereinander her, kopulieren wie Hunde. Wütende Puppen, die unkoordiniert hin- und herrennen, fallen, sich aufraffen, wieder fallen. Manchmal rotten sie sich zusammen, gesichtslose Körpermaschinen, Glieder eines Tausendfüßlers. Zholdak ist ein Maler der Szene, der wie Peter Stein gewaltige Menschenmassen bewegen und choreografieren kann. Doch anders als bei Stein gibt es hier nur noch posthumane Geschöpfe, Schatten, Spiegelungen von Menschen. Alles ist zerschlagen, es gibt keine Ganzheit. Die Mechanik des Körpers funktioniert unabhängig von den Gefühlen, das Bewusstsein ist ausgeschaltet. Nebenbei verschickt Zholdak Kassiber, Geheimbotschaften an Fellini, Pasolini und Paradschanow, den Lehrer. „Der Erdball ist eine nicht steuerbare Pest, ein schwarzes Chaos. Viele Künstler der Welt schlagen Alarm. Ich würde gerne eine Aufführung über den ganzen Menschen machen. Doch meine Antennen, die Signale, die ich erhalte, erlauben mir das nicht. Ich habe die Theorie, dass wir künstliche Geschöpfe sind. Ich halte mich für einen Roboter.“

In Zholdaks Solschenizyn-Adaption, die weniger einen Tag als das ganze Leben Iwan Denissowitschs abspult, ist die Welt zum Lager geschrumpft. Gefangene und Wärter sind nicht zu unterscheiden. Tier-Geschöpfen, die mitunter groteske Hasenohren tragen, zerrt man die Kleider vom Leib, sie werden durch Käfige gejagt, mit Stiefeln getreten, durch die Luft geschmissen. Doch wie beim Turgenjew-Abend sind auch hier Realismus und Künstlichkeit eng verwoben. Eine ironische Hommage an jene Gefühlsdampforgien auf den russischen Bühnen, mit denen die Gulagwelt, in falscher Treue zu Stanislawskijs „Kunst der Einfühlung“ gewöhnlich zu Tode gebrüllt wird. Für Zholdak dagegen bedeutet Lager Vegetieren auf niedrigster Energiestufe, im Standby-Modus. Ganz am Ende werden Solschenizyns Text und sein humanes Pathos unter Ziegelsteinen begraben.

Als die Aufführung im Herbst beim Net-Festival in Moskau gastierte, protestierte der Nobelpreisträger in der Iswestija gegen die „Wildheit und Unverschämtheit“ der Charkiwer Truppe. Doch für Zholdak, Kind einer ukrainischen Intelligenzija-Familie, ein Mystiker und Mythomane, ist der Stücktext nur ein Anlass: „In Tarkowskijs Stalker wird lange nach jenem Zimmer gesucht, in dem sich die geheimsten Wünsche erfüllen. Das Theater ist genau so ein Ort. Es schafft die Verbindung zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt. Hier wird um jede einzelne Seele gekämpft.“

Hamlet. Ein Traumspiel. Bilder im Zwischenraum der Morgendämmerung, die sich in unendlichen Schleifen wiederholen, festhaken, realer als die Wirklichkeit. Flirrende Dolce Vita einer Badegesellschaft. Strand. Sonne. Möwengeschrei. Ein erstaunlich fröhlicher Claudius tänzelt in einer schwarzen Badehose, macht Liegestütze. Doch der aufgekratzte Frohsinn kündet von Infantilisierung und Regression. Das überlaut dröhnende Veronica, der Lenz ist da! klingt in der ehemaligen Frontstadt Charkiw bedrohlich. Alles ist Experiment. Jeder schlüpft in ständig neue Rollen: Hamlet, ein blond gelockter blasser Jüngling, glänzt mal als flügelschlagender Apoll, mal als Harlekin, mal als zerquälte Künstlergestalt – ein schizoides Wesen, aufgesplittet in Dutzende Erscheinungen. Alles Showbusiness: Ständig schauen sich die Schaupieler wie in Fellinis Amarcord beim Agieren zu.

Kein Zweifel, Dänemark und die Ukraine liegen am Meer, doch hier ist auch das eiskalte Totenhaus des Osten. Drillrufe erschüttern die Szene, Hamlet wird von einer Meute mit schwarzen Pelzmützen auf die Knie gezwungen, Ophelia wie ein nasser Lappen gegen die Wand geworfen. Hinter Zholdaks schönen parallelen Welten stehen historische Traumata: der Hungertod von Millionen vorgeblicher Kulaken unter Stalin, die im Gulag verschwundenen Künstler, das gebrochene Rückgrat der verspäteten Nation.

Raum und Zeit haben hier ihre eigene Logik. Manchmal wird die Zeit gedehnt, dann gleiten die Akteure wie Fische im Aquarium durch den Raum, manchmal gefriert die Aktion. Dann, nachdem alle versucht haben, sich in einer verzweifelt fröhlichen Schaumbadschlacht von Wahnsinn, Angst und Mord reinzuwaschen, rasen plötzlich wie im Zeitraffer die Höhepunkte der Aufführung vorbei: in wechselnden Bildausschnitten, die den Blick von der Totale aufs Detail lenken. Und schon produziert Zholdaks szenischer Zauberkasten Hamlet im Reader’s-Digest-Format als Familienkrimi. Shakespeare wird, als elegischer Appendix, im Ambiente Tschechowscher Gutsbesitzer elegant zu Grabe getragen. Dann wieder Irritationen, Bildstörungen: Der Samowar qualmt zu sehr, die Tänze sind zu langsam, einer fällt um. Filmriss.

Jetzt touren die Charkiwer rastlos durch die Welt. Zholdaks postapokalyptische Moskauer Möwe , die an russischen Filmstars als Versuchskaninchen noch mal die Stanislawskij-Methode durchexerziert, ist Anfang Februar in München und Berlin zu sehen. Im Mai zeigen die Wiener Festwochen den Iwan Denissowitsch. Derweil rüsten in der Ukraine Neider und Kulturkonservative zum Gegenschlag. Für sie ist Zholdak ein Gemeingefährlicher, ein Theater- und Schauspielervernichter, manche rufen gar schon nach Gottes strafender Hand.

In Kiew hintertreiben die Gralshüter des korrupten Kutschma-Regimes bislang erfolgreich eine Inszenierung. Als Zholdak vom Kultusministerium 300000 Dollar für einen Film bekommen sollte, stoppte eine Initiative von zehn Kollegen das Projekt. Sieben Monate wartet er nun schon auf die Finanzierung seiner Version von Romeo und Julia . Sein Vertrag endet einen Monat nach den Präsidentschaftswahlen im November 2004. Wenn Kutschma oder einer seiner Getreuen wiedergewählt wird, will Zholdak das Land verlassen.