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Theater ohne Revolte

Tschechow suchte die Wahrheit, nicht die Provokation. Ein Gespräch mit dem Regisseur Peter Stein über den russischen Klassiker und die gegenwärtig in Deutschland vorherrschende Bühnenmode

Von Barbara Lehmann
15. Juli 2004, 14:00 Uhr Quelle: (c) DIE ZEIT 15.07.2004 Nr.30

DIE ZEIT: Vor 100 Jahren starb Anton Tschechow. Wenn seine Figuren heute zu Ihnen kämen und wissen wollten, wie das Leben ist, jetzt, nach 100 Jahren, was würden Sie Ihnen zeigen?

Peter Stein: Ich bin eigentlich nicht der Typ, solche poetischen Fragen zu beantworten. Ich bin ein Handwerker, nicht besonders intelligent und habe auch relativ wenig Fantasie. Und die Figuren von Tschechow begegnen mir eigentlich nur auf der Bühne und stellen an mich ganz andere Fragen: beispielsweise, wie ich es mit der Ungerechtigkeit in der Welt halte. Wie ich mein Leben einrichte, ohne andere Leute zu verletzen. Wie ich mit der Erinnerung umgehe, mit dem Bewahren von dem, was die menschliche Rasse zustande gebracht hat. Das Entscheidende dabei ist die Frage nach der Wahrheit. Denn die Tschechow-Figuren versuchen, ihr Leben, mit dem sie nicht zufrieden sind, zu analysieren, wobei sie ihre Ergebnisse dauernd wieder hinterfragen. Sie wissen, dass ein Sinn für das Leben einfach nicht zu finden ist – aber die Suche danach ist entscheidend. Die Tschechow-Figuren interessieren sich nicht dafür, ob der Tagesschau- Sprecher nun braun oder grün geschminkt ist oder ob im Augenblick in Ruanda Leute massakriert werden. Sondern sie fragen jeden Einzelnen, wie er mit der Welt, in der er lebt, umgeht. Sie erzeugen einen enormen moralischen Anspruch. Wenn man sich dem nicht stellt, sondern ausweicht und irgendwelche Scherze erfindet und das als heutige Regie verkauft, dann verrät man sie.

ZEIT: Die Menschen Tschechows wurden nach der Revolution ausradiert. Ist der Erfolg Ihrer Tschechow-Inszenierungen in Russland nicht auch darauf zurückzuführen, dass da eine Welt in Ihren Inszenierungen auferstanden ist, die man in den 70 Jahren Sozialismus begraben hatte?

Stein: Das habe ich völlig anders erfahren. Das ist keine bestimmte Adelskaste, die da drüberschwebt und durch eine Revolution hinweggefegt wird. Sondern das sind Menschen, die sowohl vom Sozialen als auch vom Geschichtlichen her offen sind für alle möglichen Einflüsse: von der Seite der Bauern, des Adels, der Kleinbürger. Aus diesem Grund sind die Tschechow-Figuren eben auch stellvertretend für den Menschen überhaupt und nicht für eine bestimmte Gesellschaftsschicht. Schon 1974 und 1975 habe ich in Russland massenhaft solche Tschechow-Leute kennen gelernt: Sie saßen in Datschen und diskutierten unendlich über die Welt und wussten selbstverständlich längst, wie sich die Geschichte entwickeln wird: Schon damals haben sie mir mitgeteilt, dass die deutsche Teilung ein Witz sei und längst überholt. 1978 haben sie mir dann auch Königsberg angeboten, mit mehr oder weniger Wodka im Blut. Sämtliche Aspekte der Tschechow-Figuren habe ich in der russischen Gesellschaft wiedergefunden. Das ist durch eine Revolution nicht zu entfernen – ganz im Gegenteil. Die russische Revolution ist entstanden, damit die Russen gegenüber der auf sie eindringenden Modernität so weit wie möglich Russen bleiben konnten.

ZEIT: Tschechow hat im Sauseschritt in seinen 44 Jahren mehrere Leben hinter sich gebracht: als Schriftsteller, als Arzt; er hat eine Dokumentation über die Gefangeneninsel Sachalin gemacht, Krankenhäuser und Schulen gebaut – und nebenbei hat er mit seinen Stücken noch das Theater revolutioniert. Ist Ihnen dieses äußeren Widerständen abgerungene Leben nah?

Stein: Nah ist mir das nicht, ich bewundere es. Es klingt zynisch, doch Tschechow hat mit seiner Biografie ein großes Glück gehabt. Sein Leben bestand vor allem aus Krankheit. Er wusste also – und das ist für Theaterleute sehr wichtig –, inwieweit der Tod und die Krankheit tief in das Leben verwirkt und verstrickt sind. Da braucht man dann nicht nur bei Sophokles nachlesen, dass wir zum Tod geboren sind. Dazu kommt, dass er die ganzen Katastrophen, die sich nach 1905 in Russland entwickelt haben, nicht mehr erleben musste. Er hat sie aber alle in ihren wesentlichen Bestandteilen gespürt, vorausgesehen und sich auch damit beschäftigt. Und er hat auf das Heftigste versucht, sich gegen die heraufziehende Ideologisierung des Lebens, der Kunst und der Wirtschaft zu wehren. Er hat genau gewusst, wie gefährlich diese Ideologisierung ist.

ZEIT: Sie haben damals in der Schaubühne wie in einer Art Kommune gelebt und auch kommunistische Ideen verbreitet. Haben Sie da auch schon Zweifel gehabt? Und wie stehen Sie heute zu den Utopien von damals?

Stein: Sie schmeißen da einen ganzen Haufen von Begriffen in der Gegend herum, die ähnlich klingen, aber etwas vollständig anderes meinen. Die Schaubühne war ein Theater, in dem alle demokratische Rechte hatten – das hat mit Kommune relativ wenig zu tun. Und zusammen gelebt haben wir schon gar nicht. Wir haben ein Ensemble aufgebaut, das gemeinsam überlegt hat, was denn das Theater sei und welche Rolle es für einen selber und in der Gesellschaft hat. Gleichzeitig wollten wir die Arbeitsorganisation verändern: Alle Beteiligten sollten dieselben Rechte haben, an allen Aspekten der Theaterarbeit teilnehmen und dementsprechend auch verantwortlich sein. Dass dort bestimmte politische Ansichten vorhanden waren, die übrigens auch äußerst kontrastreich waren, ist nicht zu leugnen. Meine Rolle bei diesen Diskussionen war die des Weichmachers und Reformisten: der Vorschläge ausarbeitete, die dann mehrheitlich angenommen werden konnten, die die Arbeit dann weitertrieben und ermöglichten. Das ist die Funktion der Schaubühne gewesen. Wenn ich heute die Möglichkeit hätte, würde ich das sofort wieder machen. Die Schaubühne, die heute existiert, hat mit dem, was seinerzeit die Schaubühne war, nicht das Geringste zu tun.

ZEIT: Tschechow hat immer wieder an Vernunft und Aufklärung appelliert. Er hat die Bedeutung von Freiheit, Selbstbestimmung und Arbeit betont und trotz aller Skepsis an die Fortschritte unserer Zivilisation geglaubt. Nun sind wir in dieser durchzivilisierten Welt gelandet – und schön ist sie nicht.

Stein: Das war sie niemals. Was wir gegenwärtig vor uns haben, erscheint nur deshalb so verzweiflungsvoll, weil wir ganz bestimmte, ideologisch bestimmte Bilder von der Zukunft entworfen und angefangen haben, daran zu glauben. Unser Fortschrittsglaube wurde dann erschüttert durch die Zukunftsprojektionen des Club of Rome, die sich, etwa hinsichtlich der Bevölkerungsexplosion, wiederum als nicht zutreffend erwiesen haben. Jetzt hat man Angst, dass die Menschen sowieso schon vorher aussterben, weil sie immer weniger werden – das ist die neueste Erfindung des Feuilletons. Tschechow lehrt uns, dass man all das nicht machen sollte. Andererseits sagt er: Ein Leben, ohne nach dem Sinn zu fragen, ist kein Leben. Ein Leben ohne den Impuls, eine gewisse Rationalität, Aufklärung und Erleuchtung zumindest zu versuchen und danach zu streben – das kannst du von vornherein in die Luft jagen. Allerdings darf man sich nicht die Vorstellung machen, dass sich die Dinge auf diese Weise lösen lassen. Lösen lässt sich gar nichts.

ZEIT: Kann es heute überhaupt noch Schriftsteller wie Tschechow geben, die ihre Zeit prägen können?

Stein: Das Problem ist, dass die Epoche heute eine globale ist. Die Dichter heute können einen solchen Einfluss deshalb nicht nehmen, weil die Welt wesentlich größer geworden ist.

ZEIT: Ist das ganze Aufklärungsprogramm damit nicht zum Teufel?

Stein: Keineswegs. Gerade jetzt müsste man umso verstärkter die Werte der Aufklärung oder des Humanismus nach vorne ziehen, anstatt zu sagen, dass das vorbei ist oder auf den Schrotthaufen der Geschichte gehört.

ZEIT: Kann man die globalen Prozesse überhaupt noch durchschauen? Ist da nicht ein Unterschied zur Tschechow-Zeit?

Stein: Ich glaube, eine Art Katastrophismus zu predigen hilft niemanden und ist auch ganz hilflos. Wir haben auch mehr Mittel als früher, Dinge zu begreifen. Das Problem ist nur, die Informationen sind ein unendlicher Haufen. Dementsprechend muss man, wie Tschechow, einen bestimmten Instinkt entwickeln für das, was denn wohl richtig sei. Und das geht wiederum nur dadurch, dass man sich selber nicht festlegt und ideologisch blockiert. Man muss sich also offen und elastisch zeigen für alle möglichen Standpunkte. Das ist etwas, was mir in dem intellektuellen Diskurs heute äußerst fehlt.

ZEIT: Tschechow war, aufgrund seines europäischen, aufklärerischen Impulses, ein unrussischer Russe. Er ist viel gereist, auch durch Europa. Er hat sich aber, in oft polemischer Weise, mit seinem Land auseinander gesetzt. Sie haben deutsche Theatergeschichte geschrieben, aber drei Tage vor dem Mauerfall Deutschland verlassen. Seitdem leben Sie in Italien. Ist das eine Art von Emigration? Fehlt Ihnen nicht die Auseinandersetzung mit Deutschland?

Stein: Ich kann schon deshalb nicht emigrieren, weil man irgendwie Europa erfunden hat. Dementsprechend wohne ich in Europa. Wenn ich emigrieren würde, müsste ich wahrscheinlich nach Australien gehen. Die so genannte innere Emigration nach Italien haben ja schon vor mehreren hundert Jahren deutsche Künstler durchgeführt. Nein, von Emigration kann gar nicht die Rede sein. Ich bin jetzt 67 und beabsichtige, das bisschen Leben, was da noch bleibt, so intensiv wie möglich zu leben. Das Berufliche wird immer unwichtiger. Und die rein wirtschaftlichen und politischen Dinge in Deutschland interessieren mich auch immer weniger. Seit 15 Jahren bin ich draußen. Ich lese auch keine deutschen Zeitungen mehr.

ZEIT: Ihre Bemerkung über das deutsche Feuilleton ließ das aber vermuten.

Stein: Nö, nö. Ich bin in Kontakt mit einigen Freunden von früher, die sich als Intellektuelle bezeichnen können. Und nehme dementsprechend an deren Diskussion teil. Als Theatermann ist man natürlich regional veranlagt, und so ist mir der Milchverkäufer in Penna in Teverina näher als irgendwas da in Berlin. Dazu kommt, dass ich sozusagen speziell von den deutschen Theaterleuten ins Aus gestellt worden bin. Ich habe keine Chance, in Deutschland zu arbeiten, selbst, wenn ich es wollte. Aus dem Grunde, weil die Theaterleute – die jetzt die so genannte »Macht« haben, man kann ja darüber nur lachen –, mir nichts anbieten. Ich bin ja allein, ich hab ja nix: keine Institution mehr, weder ein Theater noch ein Festival. Dementsprechend bin ich davon abhängig, dass man mir die Produktionsmittel zur Verfügung stellt. Und das ist in Deutschland nicht möglich. Aus dem einfachen Grunde, weil von den Theaterleuten – und das ist ja ihr gutes Recht – sich niemand für mich interessiert. Das ist Peter Stein, das ist alter Schrott, Mist, kennen wir schon, langweilig, museal, totes Theater.

ZEIT: Glauben Sie nicht, dass auch Ihr Verhalten dazu geführt hat, solche Ressentiments aufkommen zu lassen?

Stein: Absolut. Zu solchem Verhalten gehören immer zwei, genau wie bei der Scheidung. Ich weiß nur nicht, inwieweit ich mich schädlich benommen habe im Zusammenhang mit dem deutschen Theater. Ich glaube, ich habe da eigentlich keine besonderen Verbrechen begangen, sondern eine ganze Reihe von zumindest einigermaßen interessanten Dingen gemacht. Aber ansonsten ist klar: Ich bin ein polemischer Charakter. Das ist aber, glaube ich, für einen Theatermann einfach notwendig. Nur: Ich habe niemals mitgeteilt, über Kollegen, öffentlich, dass man ihnen nicht Geld geben sollte, damit sie arbeiten können, wie das Herr Castorf gemacht hat. Zweimal. Einmal im Fernsehen, in Interviewform, und auch schriftlich. Ich dagegen habe immer den Satz befolgt, dass sich die Auguren gegenseitig nicht die Augen aushacken sollten. Sondern sich eher mit dem berühmten sprichwörtlichen Augurenlächeln gegenübertreten sollten.

ZEIT: Tschechow hat ja mit seinen Stücken und seiner Ästhetik das Theater revolutioniert. Er war seiner Zeit voraus, im Widerstand gegen das Theater, was es damals gab.

Stein: Das ist von vornherein alles falsch, was Sie sagen. Tschechow hat das Theater nicht revolutioniert. Sondern mit ganz merkwürdigen Mitteln, die sich weit von der ursprünglichen griechischen Tragödie unterscheiden, deren entscheidenden Anspruch und Wirkung wiederhergestellt – nur durch einen anderen Weg. Wer das Theater revolutioniert hat, vielleicht, das ist Stanislawski gewesen. Und dann als Gegenrevolutionär Meyerhold. Aber auch die haben sich nicht als Revolutionäre verstanden, sondern als Bewahrer des wirklichen Theaters. Das Theater ist nicht revolutionär. Sondern das Theater stellt in den politischen und gesellschaftlichen Lebensraum hinein die provokante Beschreibung – provokant, nicht, weil man provozieren will, sondern, weil es der Wahrheit entspricht – der menschlichen Existenz. Der gegenüber sämtliche Argumente, Pläne, Projekte, Empfindungen letzten Endes lächerlich werden. Das ist die Kraft des Theater. Und daraus ist es auch entstanden.

ZEIT: Der eben erwähnte Castorf repräsentiert den Zeitgeist, das so genannte fortschrittliche Theater. Wenn man das mal umkehrt und sagt, das ist inzwischen das affirmative Theater…

Stein: Schon längst, natürlich, es ist ja da, wo das Geld ist.

ZEIT: In welcher Form wäre heute revolutionäres Theater möglich, was polemisch gegen den herrschenden Mainstream angeht?

Stein: Wenn man das verlangt, von Theaterleuten, dass sie ununterbrochen Revolution machen, ununterbrochen gegen den Mainstream schwimmen, was wird daraus? Genau das, was Sie gerade beschrieben haben: dass das exakt der Mainstream wird. Man kann nicht ununterbrochen Transgressionen machen. Dann ist es nämlich keine Transgression mehr, sondern schlicht und einfach ein Vor-sich-hin-Stolpern. Es gibt dann keine Grenzen mehr, die man überschreiten kann, wenn man das dauernd tut. Dann verdampft die Grenze durch die Transgression.

ZEIT: Also was tun?

Stein: Schwierig zu sagen. Jungen Menschen, vor allem Schauspielern, wird ja zunehmend die Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben, verweigert, weil irgendwelche wahnsinnig gewordenen Gegen-den Strich-Bürster sie als Kanonenfutter benutzen. Schauspieler als Puppen, als Material. Doch eine künstlerische Persönlichkeit zu entwickeln, das erfordert Beschäftigung auf breitestem Horizont: sowohl auf dem Nagelbrett onanieren und, eine Dame fickend, Sein oder Nichtsein sagen, aber auch einen Shakespeare-Monolog so innig, intensiv und, mit den eigenen Lebenserfahrungen erfüllt, zu äußern, wie das vielleicht vor 100 Jahren der Fall war. Meine Hoffnung ist ja, dass Schauspieler sich wehren und sagen: Was hat Riccoboni eigentlich gemeint mit seinen Anweisungen, wie man schauspielern soll? Wie ist das eigentlich bei dem Stanislawski? Kann mir mal jemand sagen, was die griechische Tragödie eigentlich ist? Es ist zu hoffen, dass junge Menschen sich dafür interessieren, was Theater mal gewesen ist. Und es dann für die eigene Zeit wiedererfinden. Das hat mit Revolution nichts zu tun.

ZEIT: Ist das Theater der, wie Sie es nennen, Gegen-den-Strich Bürster nicht auch eine Reaktion auf unsere kaputte Zeit?

Stein: Die Zeit, sagt man immer, ist natürlich ganz entsetzlich. Aber gehen Sie doch mal in Berlin in die normalen Wohnviertel. Gucken Sie doch, wie die Leute dort leben. Ist das so fürchterlich unterschiedlich zum Leben wie vor 50 Jahren? Dann essen sie zu Mittag, dann haben sie noch ein Problemchen, und abends sitzen sie vorm Fernseher – okay, das ist vielleicht neu. Aber, im Grunde genommen, ist das, was sie gerade tun, von einer geradezu stinkigen Normalität. Deutschland besteht doch nicht – und Italien schon gar nicht – aus lauter Drogenabhängigen und Sozialfällen! Wenn das so wäre, ja dann bitte schön: Dann schlagen wir das Theater kaputt! Das heißt, diese Art von hysterischem Aufgeregtheitstheater ist doch unwahr, weil es sich tatsächlich nicht bezieht auf die konkreten Gegebenheiten der Gesellschaft. Die jungen Regisseure beschäftigen sich nur mit Drogenabhängigen, Pennern und Halbverrückten, und selber kaufen sie dauernd Armani-Hosen und gehen in den Duty-free-Shop. Gucken Sie sich die Burschen doch an!

ZEIT: Dennoch: Ist unsere Situation nicht vergleichbar mit der von Tschechows Figuren? Wir sitzen rum, warten, und irgendwann kommt so eine Welle angerollt und wischt uns alle weg.

Stein: Nur, die Tschechow-Figuren sind nicht so doof, zu sagen, dass dieses Gefühl wirklich das einzige sei. Stimmt, Irina in den Drei Schwestern sagt so was, nur, welche Konsequenzen zieht sie daraus? Nicht dass sie sich einen Schuss setzt, sondern sie geht arbeiten. Obwohl sie der Meinung ist, dass Arbeiten nur unglücklich macht, dass es nix bringt. Aber sie tut es. Das ist das Entscheidende bei den Tschechow Figuren, dass sie bestimmte Obsessionen haben…

ZEIT: …und ihnen letztendlich nicht folgen!

Stein: Ja, sondern sie stellen sich dem Leben. Mit der größten Verzweiflung und auch mit Resignation, aber selbst da lassen sie sich den Schneid nicht abkaufen. Selbst in der größten Resignation entwickeln sie Empfindungen, die warm sind und an die sie sich halten. Daraus entspringt dann sowohl ein gewisser Stolz auf die eigene Existenz – das ist gut griechisch tragisch gedacht – als auch ein bestimmter Genuss. Stolz und Genuss in der Akzeptanz des Lebens mit seinen Widersprüchen. Na ja, okay, ich muss jetzt ins Theater.

Das Gespräch führte Barbara Lehmann